Kirchen schließen – Jesus rauslassen? II

Kirchentheoretische Beobachtungen zur Veränderung von Kirche in der Corona-Krise

Digital, in den eigenen vier Wänden und im Sozialraum

Raumdimensionen

Der digitale Bereich war angesichts der zwangsweise geschlossenen Kirchenräume das bevorzugte Anfangsexil, mit dem man sich mehr und mehr anfreundete. Es entstanden zahlreiche interaktive Gebetsplattformen; viele Gottesdienst werden aus leeren Kirchen über YouTube gestreamt und er­reichten Klickzahlen, die weit über die Zahl der üblichen Gottesdienstbesucher*innen hinaus gehen – aber natürlich auch mit wesentlich kürzeren Verweildauern verbunden sind.

Über die Qualität der Produktionen und Inszenierungen lässt sich natürlich streiten. Manches wurde eins zu eins von ana­log ins Digitale übertragen und vermochte angesichts der Kürze der Zeit keine kontextuelle Anpassungsleistung an das Medium und die Kommunikationsform zu vollziehen. Aber die hier zum Ausdruck kommende Bedeutung der sozialen Reichweite des lokalen Gottesdienstes ist ein erstaunliches Phänomen.

Der Gottesdienst vor Ort wird zum glokalen Raum

Über das Netz verbindet der Gottesdienst mit dem Kirchengebäude und dem*r Pastor*in nun lokale Identität mit mobilen Lebensformen. Der Gottesdienst vor Ort wird zum glokalen Raum, in den ich digital von jedem Ort – und auch unabhängig von der Zeit – zugreifen kann.

Der Grund für meine digitale Beteiligung liegt in Verbundenheit und Zugehörigkeitsgefühlen zum Ort, der Kirchengemeinde oder handelnden Personen. Hier kommen ein Partizipationsverhalten und Zugehörigkeitsmuster in den Blick, die ortsgemeindliche Bezüge von Präsenzzeit und Wohnort zugleich analog entkoppeln und digital neu verbinden. Damit ist gleichzeitig eine Verschiebung des religiösen Lebens verbunden.

Aus Dauerabonnenten von Kirche vor Ort werden religiöse Selbstversorger.

Das Ende von betreutem Glauben mit seiner Pastorenzentriertheit winkt am Horizont. Über Social Media wird dieser Effekt zusätzlich verstärkt, da diese Medien die klassischen Grenzen von privater und öffentlicher Kommunikation im Bereich von Web 2.0 (und aufwärts) generell verflüssigen – und damit übrigens auch die Differenzen von öffentlichem, privatem und kirchlichem Christentum.

Zugleich entwickelt sich unter den verantwortlichen Akteuren*innen im Blick auf den digitalen Raum eine neue, experimentelle Haltung auch jenseits der Digital-Natives. Was an digitaler Entwicklung jetzt innerhalb von zwei Monaten möglich wurde, hätte nach Auskunft von Fachleuten sonst zwei Jahre gedauert. Das bezieht sich übrigens nicht nur auf gottesdienstliche und liturgische Formen, sondern auch auf andere Interaktionsformen.

  • Am Hackathon #glaubengemeinsam, von den Jugenddelegierten der EKD ausgesprochen kurzfristig initiiert, beteiligen sich knapp 700 Per­sonen und entwickelten in unterschiedlichen digitalen Arbeitsgruppen und Foren veritable Projekt­skizzen.
  • get blank_ Eine ursprünglich von den Missionarischen Diensten im Haus kirchlicher Dienste der Landeskirche Hannovers als Barcamp konzipierte Veranstaltungsform für Pionier*innen in der Kirche wird zu einem Blended-Learning-Format mit analogen und digitalen Arbeitsformen umgestrickt. Statt der ursprünglich 50 Personen nehmen nun über 300 teil.
  • Darüber hinaus wurden auch Entscheidungsprozesse der kirchlichen Organisationen vereinfacht und beschleunigt – bis hin zu Veränderungen von Rechtslagen hinsichtlich der Gültigkeit von Online-Beschlüssen von Kirchenvorständen in einzelnen Gliedkirchen.

Diese Beispiele zeigen, dass hier die unterschiedlichen Handlungsebenen von Ortsgemeinde, Kirchenkreis und Landeskirche mit den entsprechenden Einrichtungen durch virale Kommunikationsformen durchzogen und verbunden werden sowie neue Netzwerke entstehen.

Kommunikation des Evangeliums revitalisiert

Pfarramt und funktionale Dienste – und dabei habe ich nicht nur Telefon- und Internetseelsorge vor Augen – tragen in verschiedener Weise dazu bei, dass sich Formen der Kommunikation des Evangeliums über Kirchengebäude hinaus in familiären Lebenswelten und öffentlichen Räumen im Sozialraum revitali­sieren.

Offene Kirchen können über virtuelle Kirchenführungen am Computer begangen werden.

Als Beispiel für die Wiederbelebung des Hauses als Ort des liturgischen Lebens mag die Gründonnerstags- und Osternachtsliturgie dienen, die von den Mitarbeitenden des Geistlichen Zentrums Kloster Bursfelde konzipiert, unter Einbindung von vielen Beiträgen Anderer produziert und digital zur Verfügung gestellt wurde und in Summe über 1000 Aufrufe bei YouTube verzeichnet.

Auch Hoffnungsbriefe und Lesegottesdienste in klassischer Printform führten mit dazu, dass sich Luthers „dritte Weise“ des Gottesdienstes aus der Vorrede zur Deutschen Messe in Form von Haus­gemeinden in überraschender Form vielfältig realisierte. Dazu hat nicht zuletzt auch die „Freigabe“ des Abendmahls durch die Kirchenleitung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers beigetragen. Hier wurden Formen des Priestertums aller Gläubigen ermöglicht, geweckt und phantasievoll entwickelt, die ohne Corona-Krise in dieser Form kaum möglich geworden wären.

Die neuen Gesichter

Das lässt sich durchaus als innerkirchlicher Demokratisierungsschub beschreiben, der eine neue Bedeutung der Rolle der Menschen vor Ort signalisiert. In diesem Engagementensemble kommt Hauptamtlichen eine hohe Bedeutung zu, sie fungierten in der wichtigen Rolle als Impulsgeber, Ermöglichende und Identifikationsfiguren. Die Konzentration auf die Pastor*innen kann ich in meiner Wahrnehmung nur auf diese besondere Rolle beziehen, nicht generell auf die unterschiedlichen neuen Formen und Gesichter, die Kirche in der Krise angenommen hat. Denn hier waren in vielfältiger Form Christen beteiligt, die auch die bisherige Differenzierung in Ehrenamtliche und „Nicht-Engagierte“ unterliefen.

Sänger*innen und Bläser*innen haben bei spontanen Flashmobs kirchliche Präsenz gezeigt.

Diese Beobachtung trifft in besonderem Maße auf kirchliche Präsenz im Sozialraum zu. Hier haben Sänger*innen und Bläser*innen bei den spontanen Flashmobs in hohem Maße zur kirchlichen Präsenz beigetragen. Und auch die Verschönerungen mit Auferstehungsbotschaften auf den Hofeinfahrten und Gartenwegen zu Ostern wurden von zahlreichen Christen mitgetragen, die vor der Krise diese öffentlichen Glaubenszeugnisse im sozialen Umfeld vermutlich als indiskret empfunden hätten.

Die kirchliche Präsenz zeigte sich natürlich auch in unterschiedlichen Formen der Nachbarschaftshilfe, indem sowohl klassi­sche Formen auflebten (Einkaufen und Telefonanrufe) wie neue entwickelt wurden, wie die Aktion auf der Autobahnraststätte zeigt.

Auch im digitalen Bereich zeigten sich Kirchengemeinden durch z.B. die Initiierung einer gemeinsamen Internetplattform als Akteurin im Sozialraum, die Kooperationsformen schafft. Und selbstverständlich brachte die beteiligte Kirchengemeinde auch hier ihr inhaltliches Charisma ein: Begriffe wie Hoffnung und Vertrauen, Gemeinschaft und Gemeinwohl, die im Gottesglauben gründen und nun inklusiv ins Gemeinwesen eingebracht und dort verkörpert werden.

Ostern in der Krise

Ein Grund für die erstaunliche Vitalität und Kreativität lag in der Verbindung mit der Kirchenjahreszeit und dem kulturell verankerten Brauchtum zu Ostern. Zahlreiche der Aktionen hätten ohne die Ver­bindung mit der Karwoche und dem Osterfest nicht diese Resonanz erfahren, was auch für die hohe mediale Aufmerksamkeit gilt.

Zugleich war ein größeres Bedürfnis von Menschen wahrzunehmen, diese Zeit bewusst inhaltlich zu gestalten und daher Gottesdienste, Gebete, Kirchenmusik, Konzerte etc. wesentlich intensiver am Laptop und im Fernsehen zu verfolgen als sonst in Kirchengebäuden.

Die traditionelle Kirchenbindung wurde neu belebt.

Natürlich zeichnet sich dieser Personenkreis durch eine traditionelle Kirchenbindung aus. Aber diese wurde zum einen neu belebt und zum anderen die Reichweite von Kommunikation des Evangeliums in den jeweiligen häuslichen Lebenswelten sowohl interfamiliär als auch im sozialen Umfeld erhöht. Man darf also durchaus von missionarischen Effekten sprechen, die sich spontan eingestellt haben.

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