Kirchen schließen – Jesus rauslassen? III

Kirchentheoretische Beobachtungen zur Veränderung von Kirche in der Corona-Krise

Kreativ und vielfältig – das hybride Gesicht der Kirche in der Krise

Der Krisenmodus führte zu einer Grundatmosphäre von Kreativität und Experimentierfreude, weil für die zu bewältigenden Aufgaben keinerlei Routineabläufe zu Verfügung standen. Die Kirche wagte auf allen Handlungsebenen, sich in Anknüpfung an traditionelle Formen und soziale Praktiken zugleich neu zu erfinden und erfuhr erstaunliche Resonanz.

Ganze Landeskirchen wurden zum Erprobungs­raum.

Natürlich hat die Schließung von Kirchen, Gemeindehäusern, Kitas, diakonischen und Bildungseinrichtungen sowie Tagungshäusern und dem Besuchsverbot in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu großen Einschränkungen und Belastungen geführt, die nicht bagatellisiert werden dürfen. Und die Bedeutung der Einschränkungen für die Kasualien und dabei insbesondere für Beerdigungen und die Bestattungskultur sind nicht gering zu schätzen.

Zu schnell darf daher die Not nicht zur Tugend erklärt werden, das würde zynisch die besonders Notleidenden übersehen. Dennoch ist der spontane Aufbruch in die oben beschriebenen Kommunikations- und Lebensräume ein überraschendes Zeichen für die Lebendigkeit evangelischer Religionskultur in unserer Gesell­schaft, die sich im Krisenmodus eingestellt hat – und Entsprechendes wird auch für die katholische Kirche gelten.

Kreativ und vielfältig – so präsentierte sich die Kirche nicht nur im analogen und digi­talen Raum, sondern auch in unterschiedlichen Akteursebenen von haupt- über ehrenamtlich bis spontan-engagiert, von Pfarramt und funktionalen Diensten und in dem Zusammenspiel von institutionellen, organisatorischen und Bewegungsaspekten, die vielfach digital miteinander verbunden wurden.

Die Kirche bekam in der Corona-Krise ein ausgesprochen hybrides Gesicht – und die unter­schiedlichen Logiken, die in der klassischen kirchentheoretischen Dreiteilung von Institution (z.B. die kulturelle Verankerung des Osterfestes durch Feiertage und Brauchtum sowie die symbolische Quali­tät von Kirchort und Amtsträger*in), der Organisation (Entscheidungen und Ressourcen auf unter­schiedlichen Handlungsebenen) und Bewegung (zahlreiche spontane Aktionen bzw. Interaktionen und neue Formate) wirksam sind, wurden miteinander fruchtbar gemacht.

Kontakt zur Gemeinde: gesucht und gefunden!

Diese Krise hat sich be­reits nach acht Wochen bei allen negativen Folgen, die im finanziellen Bereich in den nächsten Jahren noch sehr greifbar werden, als Chance erwiesen. Im Originalton eines Superintendenten in einer Mail an die Mitglieder der Kirchenkreiskonferenz Mitte April klingt die Einschätzung der Situation so:

In den letzten Wochen haben Sie schon neue Wege der Kommunikation mit den Gemeinden gesucht – und gefunden! – Es war für mich extrem beeindruckend, wie in den Gemeinden – in allen Gemeinden unseres Kirchenkreises! – völlig neue Formate gottesdienstlicher Feier und Verkündigung gesucht und gefunden wurden! Lassen Sie mich das so sagen, wie ich das erlebt habe: Das war stark! Das hat Spaß gemacht, von Ihren Aktionen zu hören, zu lesen – oder sie zu sehen! Von den Aktionen „unter der Tür durch“ bis hin zu Gottesdiensten mit Gemeindegliedern als Lesende, Grüßende, An­spielende, liturgisch Agierende – und Videoschnittkünstlern.

Da war Kirche ganz lebendig, vielfältig, gemeindesuchend – und -bauend!

Mir hat die Vielfalt, in der Sie Kirche-Heute gezeigt haben, richtig gut gefallen. Und hat mir Spaß ge­macht, wie lange nicht mehr… Lassen Sie uns diesen Weg der ganz anderen intensiven Kommunikation fröhlich weitergehen, lassen Sie uns ausprobieren und Neues wagen!

„Kirche-Heute“ nicht zu einer Erfahrung von gestern machen

Diese Aufbruchsstimmung ist krisenbedingt. Sie lässt sich daher nicht auf Dauer stellen. Dieses krea­tiv-lebendige und zugleich so vielfältige Gesicht ist das Gesicht von Kirche-Heute. Dennoch wäre zu wünschen, dass die momentane Aufmerksamkeit, die die schrittweise Öffnung von Kirchengebäuden und anderen Einrichtungen und die Wiederaufnahme von Gottesdiensten unter sorgfältigster Be­rücksichtigung der Hygienebedingungen mit dem ganze Regelbedarf dieses kreative Gesicht von Kirche-Heute nicht zu einer Erfahrung von gestern machen.

Ich erinnere daran: den kreativen Schub der letzten acht Wochen haben wir der Schließung der Kirchen zu verdanken. Es waren leere Kirchen, die ausnahmsweise nicht zu Krisendiagnosen und Depressionsschleifen führten, sondern zu einem ungeahnten, spontanen innerkirchlichen Aufbruch mit großer sozialer Reichweite und erstaunlicher Resonanz. Provokant gesprochen: mitten im Versuch, sich unter Optimierung des Normalprogramms gegen den gesellschaftlichen Wandel einer Religionskultur zu stemmen und dabei immer wieder einer hektischen Lähmungsstarre zu erliegen, hört die Kirche angesichts verschlossener Kirchentüren ein

Steh auf, nimm deine Kirche und geh.

Kirche geht aus dem Häuschen, nicht freiwillig, sondern verunsichert, zunächst zögernd-tastend, dann aber zunehmend bereitwillig, leichtfüßig und mit wachsendem Elan. Und findet auf den neu begangenen Wegen erstaunliche viele aufmerksame Passanten und Mitläufer*innen.

Zeichnet sich hier nicht eine Zukunftsaufnahme von der Kirche ab, die aus dem Konjunktiv der Imagi­nation, wie Kirche sein könnte, den Weg in den Indikativ der Gegenwart gefunden hat: das ist Kirche!? Nicht nur gemeindesuchend – und bauend, sondern zugleich vielfältig verbindend, fragend, vernetzend, handelnd, solidarisch und parteilich zugleich.

„Zeit für neue Wege?“ betitelt das Sozial­wissenschaftliche Institut der EKD seine Befragung von Pastor*innen zu Erfahrungen mit der Corona-Krise. Prophetische Stimmen gehen über das Fragezeichen hinaus und versehen ihre Deutung der Krisenphänomene mit bedenkenswerten Ausrufezeichen (vgl. Tomáš Halík, Christentum in Zeiten der Krankheit). Die Corona-Krise weise einen Weg aus der Kirchenkrise, weil in der Beschleunigung des Endes von traditionellen kirchlichen Formen – symbolisch festgemacht an der Schließung von Kirchengebäuden und dem Einstellen der „geschlossenen Gottesdienste“ – zugleich die Aufbrüche von neuen Formen des Kirche- und Christseins deutlich werden.

Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?

Die Krise wird zum Entwicklungsbeschleuniger für die Konturen eines neuen Gesichts von Kirche. Die leeren Kirchen er­scheinen im nachösterlichen Licht als Gleichnis für das leere Grab und der biblische Hinweis lautet entsprechend „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ (Lk 24,6). Hier wird die geistlich ge­deutete Corona-Krise zum Ausgangspunkt einer neuen Suchbewegung, auf nach „Galiläa“ (Mt 28,10) – wo immer sich dieser Ort der verheißenen Gegenwart des Auferstandenen heute befinden mag – neugierig und mit leichtem Gepäck auf den Wegen der Verheißung.

Es ist ein Leichtes, auch diesen hoffnungsvoll-provokativen Ausblick wie einst die Rede der Frauen vom leeren Grab als „Geschwätz“ (Lk 24,11) abzutun. Aber damit bringt man sich und die Kirche um einen Hoffnungshorizont, der den eigenen Standort und den Zukunftsweg neu ausrichtet und orien­tiert.

„Es gibt so viele Hoffnungsgeschichten wie lange nicht mehr in unserer in ihren Formen und Strukturen erstarrten Kirche. Es scheint so, als habe der Heilige Geist selbst die Betreuung des Glaubens übernommen. Pfingstfest schon jetzt – wundervolle Nachrichten“ schreibt Pastor Karsten Wolkenhauer aus Demmin (Evangelische Zeitung am 10.05.2020, S. 20) und bemüht das nächste kirchliche Hochfest, um die Ereignisse zu deuten.

Konturen einer pilgernden und priesterlichen Kirche

„Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ (Lk 9,26) Re-Visionen sind keine hilfreichen Bilder für Wege in die Zukunft. Dies gilt auch für die Rückkehr zum vermeintlichen Normalprogramm.

In den vielfältigen kirchlichen Reaktionen auf die Corona-Krise haben sich spontan neue Konturen von Kirche gezeigt, die in der Zukunft auch gezielter verfolgt werden sollten. Damit sind nicht nur die neuen hybriden Formen analoger und digitaler Kommunikation des Evangeliums gemeint. Sondern vor allem ein Kirchenbild, das sich mir in be­sonderer Weise aufdrängt.

In der Krise ist es der Kirche gelungen, aus bislang für notwendig gehaltenen Räumen auszuwandern und als pilgernde Kirche zugleich nah bei Gott und nah bei den Menschen zu sein. Nehme ich die Kirchen und den Sonntagsgottesdienst als performative Symbole einer vergehenden Christentumskultur wahr, so wird hier ein pilgernder Exodus in neue, unbehaus­tere Formen sichtbar.

Kirche wird ihren Weg im Gehen finden

Formen, in denen die Kirche nach wie vor re-generativ an kulturelles und institutionelles Erbe anknüpfen kann, sich aber zugleich damit in neuer Weise risikoreich aussetzen muss. Formen, in denen die Kirche als Akteurin in der Zivilgesellschaft ihren Öffentlichkeitsauftrag im Sinne der Universalität des Evangeliums inklusiv wahrnimmt, ohne vereinnahmen zu wollen oder zu können. Formen, in denen die Kirche stellvertretend vielfältige Zugänge zu dem Leben schaffenden Geheimnis offen hält, das sie selber Gott nennt. Und Formen, in denen sie ihre Welt immer wieder in Dank, Fürbitte und Klage in den Horizont der Heilsgegenwart Gottes rückt. So bleibt Kirche unterwegs – in der Spur der Nachfolge Christi und zugleich in der Nähe der Menschen – und wird ihren eigenen Weg im Gehen finden – als pilgernde und zugleich priesterliche Kirche.

Die Corona-Krise hat der Kirche einen Weg in die eigene Tiefe gewiesen.

Krisenbedingte Erfolgszeiten haben bekanntlich sehr geringe Halbwertzeiten. Aber die Corona-Krise hat der Kirche einen Weg in die eigene Tiefe gewiesen, aus der sie neue Wege für die Zukunft re-generieren kann. Mit schmerzvollen Abschieden einerseits und in Anknüpfung an den Reichtum ihrer Tradition, ihrer Formen und ihrer Akteursebenen andererseits – und zugleich auf dem Weg in eine neue religionskulturelle Situation, die mit einem Minderheitenstatus verbunden und zunehmend weniger vom kulturellen Erbe als vom kreativen und kontingenten Zusammenspiel von Menschen, Ideen, Räumen, Orten und Ressourcen leben wird.

Die Chance ist mit dem Ausbruch aus Kirchenräumen verbunden

Darum sollte bei der momentanen Rückkehr zu vertrauten Formen die Chance des Aufbruches nicht verspielt werden. Diese Chance ist – paradoxer Weise – mit einem mentalen und faktischen Ausbruch aus Kirchenräumen verbunden. Raumverknappung hat sich im Nachhinein als Initialzündung für Raumgewinn anderer Art erwiesen. In gewagt-geistlicher Deutung: Wenn Gott eine Tür schließt, öffnet er eine andere.

Eine Rückkehr zu einem vermeintlichen Normalprogramm, die sich als mentaler und faktischer Rückzug erweist, wäre in dieser Hinsicht nicht nur für die Kirchenentwicklung hinderlich, sondern Ausdruck von Kleinglauben. Wo der Auferstandene durch geschlossene Wände in die unmögliche Wirklichkeit des neuen Lebens tritt, sollte seine Kirche nicht an der Schwelle verharren. Sondern dem folgen, der Tür und Weg zugleich ist.

Mit diesem Ausblick ist primär eine Haltung intendiert, kein pragmatischer Masterplan. Eine Haltung, die zu Abschieden ermutigt, Vertrauen investiert, Kreativität weckt und Innovation hervorruft. Eine Haltung, die von der Leidenschaft lebt, das Evangelium auf vielfältige Weise phantasievoll zu teilen. Der „wahre Schatz der Kirche“ gehört unter die Menschen. „Wo der Glaube ganz unter die Bank gesteckt worden ist, erkennt niemand Christus als Herrn“ (Martin Luther).

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