Kirchen schließen – Jesus rauslassen? I

Kirchentheoretische Beobachtungen zur Veränderung von Kirche in der Corona-Krise

Krisen als Entwicklungsbeschleuniger

Krisen gelten schon immer als Entwicklungsbeschleuniger.

Das lässt sich rückblickend auch auf unter­schiedliche Krisenzeiten und Transformationsschübe in der evangelischen Kirche zeigen. Ob der Auf­bruch der Inneren Mission angesichts der Industrialisierung und der Entstehung des Proletariats Mitte des 19. Jahrhunderts, die Entstehung der Gemeindebewegung als Reaktion auf Landflucht und Urbanisierung um die Jahrhundertwende oder die Kirchenreformbewegung als Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts und der zunehmenden Aus­differenzierung der Lebenswelten.

Auch die Pluralisierung von Gemeindeformen, die durch die eng­lische Fresh-expressions-of-church-Bewegung vehement befeuert wurde, verdankt sich nicht primär am Schreibtisch gewonnenen theologischen Einsichten, sondern veränderten religionskulturellen Kontexten (Individualisierung und Pluralisierungen, Ausdifferenzierung von Milieus, Segmentierun­gen, Mediatisierung, Mobilität etc.), die zu veränderter Praxis drängten und dann natürlich auch einer theologischen Deutung unterzogen wurden.

Aus Krisen werden neue Formen von Kirche und Christsein geboren.

Bei allen Beispielen handelt es sich um Moder­nisierungskrisen, die jeweils zu neuen Formationen kirchlichen Lebens und christlicher Lebensformen führten. Neben dem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel aufgrund von Modernisierungs­prozessen haben noch andere Krisenformen zu massiven Veränderungen in der Kirchenlandschaft geführt.

Vieles an Entwicklungen, die aus heutiger Sicht wie selbstverständlich und theologisch fundiert erscheinen, wurde aus der Not heraus geboren. Ohne den 2. Weltkrieg und den Einzug vieler Pastoren als Feldgeistliche hätte der Kampf für die Frauenordination noch weitaus länger gedauert. Und auch die Gründung der EKD wäre wahrscheinlich unter anderem Vorzeichen zustande ge­kommen, wenn sich hierbei nicht auch die Erfahrungen des Nationalsozialismus, des Kirchenkampfes und des 2. Weltkrieges niedergeschlagen hätten.

Analoges ließe sich auch für die Theologie­geschichte beschreiben, bei der z.B. der epochale kulturelle Umbruch nach dem 1. Weltkrieg zu einem neuen theologischen Paradigma, der dialektischen Theologie, geführt hat (parallel zu den Um­brüchen in anderen Kulturwissenschaften wie der Philosophie und den Künsten) und die jeweiligen gesellschaftlichen Großwetterlagen ab 1965 verschiedene Genitiv-Theologien nach sich zogen (Theologie der Hoffnung, Theologie der Gesellschaft, Theologie der Schöpfung u.a.m.).

Dass eine Pandemie zur massiven Veränderung des gesellschaftlichen Lebens führt, liegt allerdings schon länger zurück. Als die markantesten historischen Beispiele drängen sich die Pestschübe im Mittelalter und der frühen Neuzeit auf. Die jüngste Pandemie ist die spanische Grippe, die zwischen 1918 und 1920 in drei Schüben ca. 50 Millionen Menschenleben kostete und als Mutter aller moder­nen Pandemien gilt.

Die Corona-Pandemie, die Gott sei Dank weitaus geringere Letalitätsraten als die spanische Grippe (diese lag bei ca. 10 %) aufweist, hat sich allerdings gravierend auf weltweite Dynamiken ausgewirkt. Sie hat gezeigt, wie verwundbar eine globalisierte Welt ist, und zum Stillstand der hohen Mobilitäts- und Beschleunigungsthermik geführt.

Der Corona-Lockdown hat die Religionsgemeinschaften unvorbereitet getroffen.

Der Lockdown hat Wirtschaft wie Kultur, Tourismus wie Zivilgesellschaft, Kommunen wie Kitas, Schulen und Religionsgemeinschaften in gleicher Weise unvorbereitet getroffen und zu großen Einschränkungen auf zahlreichen Gebieten geführt.

Und mit wachsender Dauer der Krise und dem Steuern auf Schrittsichtweite wächst auch die Ahnung, dass die Zeit vor Corona in unerreichbare Ferne schwindet und sich die Post-Corona-Zeit erheblich davon unterscheiden wird. Wir erleben offensichtlich das, was besorgte Zukunfts­forscher*innen und Aktivist*innen noch vor kurzem mit manchmal verzweifeltem Gestus anmahn­ten: die große Transformation. Globale Veränderung ist möglich!

Die Krise beschert uns einen para­dox wirkenden globalen Entwicklungsschub auf fast allen Ebenen, der – mit zeitlichem Abstand – vermutlich zu Recht als spontane Sprunginnovation bezeichnet werden wird. Denn diese Sprunghöhe hätten wir nicht freiwillig genommen.

Not lehrt beten – und macht erfinderisch

Welche Veränderungen lassen sich im kirchlichen Raum beobachten? Wohl wissend, dass diese Ver­änderungen eigentlich nicht isoliert zu sehen, sondern in aktuelle gesellschaftliche Umbrüche einge­bettet sind.

Die kirchlichen Veränderungen beginnen mit einer gravierenden Verlusterfahrung.

Die Veränderungen beginnen mit einer gravierenden Verlusterfahrung: die zentral sicht­baren Symbole der volkskirchlichen Religionskultur werden geschlossen, die Kirchen stehen leer. Und auch der Hort des vereinskirchlichen Lebens, die Gemeindehäuser, muss dicht machen. Damit verliert die grundlegende Sozialform des Christentums, die Ortsgemeinde, ihre faktischen und symbolischen Versammlungsorte.

Und das alles in einer Hoch-Zeit des Kirchenjahres: über Passion und Ostern – auch wenn kulturell gerade das Osterfest nicht vom Hype des sogenannten Weihnachtschristentums profitieren konnte und vermehrt als Zeitraum des Kurzurlaubes dient.

Damit wurde ein Tabu angetastet, das auch in der von der Evangelisch-lutheri­schen Landeskirche Hannovers initiierten „Zeit der Freiräume“ im vergangenen Jahr nicht zur Dispo­sition stand: der Sonntagsgottesdienst im Kirchgebäude, der theologisch wie institutionell als der unverzichtbare Identitätsmarker von Kirche und evangelischer Religionskultur galt. Wenngleich sich der Gottesdienst in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmenden pluralisiert hat – sowohl im Blick auf Formen als auch Orte.

Wird die äußere Bewegungsfreiheit zwangsweise eingeschränkt, bleibt der Weg nach Innen. Not lehrt beten. Für sich selbst und stellvertretend für andere.

Gebete, Liturgien und Lieder zogen aus den geschlossenen Räumen aus und begannen zu wandern.

Sie pilgerten zu unterschiedlichen Orten, die sich durch verschiedene soziale Räume und Kommunikationsformen auszeichnen und von den privaten Wohnungen über die Öffentlichkeit in den Sozialräumen bis hin zum Internet und den Social Media reichten.

Und Not macht auch erfinderisch. Denn neben den vielen digitalen Formaten, die von gestreamten Gottesdiensten bis hin zu interaktiven Formaten reichten, wurden Formen von liturgischer Praxis in den Familien wiederbelebt und neu kreiert, in den Sozialräumen fanden Flashmobs von Sänger*innen und Bläser*innen statt, selbstbemalte Oster- und Christussteine lagen in Dörfern, Städten und an Wegen aus, mobile Segensstationen reisten durch Dörfer, an Wäsche­leinen warteten biblische Mutmachworte und Segenssprüche sowie Predigten-to-go auf interessierte Abnehmer*innen. Autogottesdienste wurden veranstaltet und an den Raststätten reichten ehrenamtlich Engagierte den LKW-Fahrern angesichts geschlossener Restaurants Esspakete.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt der vielfältigen kreativen Aktionen, die u.a. von der EKD unter dem Motto „Kirche von zu Hause – Alternativen (nicht nur) in Zeiten von Corona“ dokumentiert werden, vgl. für den Gottesdienst besonders die Homepage des EKD-Zentrums für Gottesdienst- und Predigtkultur.

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