Von Kirche wird erschütternd wenig erwartet – und trotzdem engagieren wir uns

Von Dr. Klaus Douglass

Vor ziemlich genau einem Jahr saßen wir in kleinem Kreis zusammen und unterhielten uns über die vielen Streitfragen, die gerade unser Land durchziehen. Die Auseinandersetzungen um Corona, Klimawandel, Krieg in der Ukraine oder Armutsbekämpfung werden scheinbar immer erbitterter geführt. Gleichzeitig wächst die Zahl der Menschen, die es müde sind, über die ewig gleichen Fragen zu diskutieren. Sie haben sich ihre Meinung zu den strittigen Themen gebildet und ziehen sich aus allen weiteren Debatten zurück.

Also träumten wir: Wie schön wäre es doch, wenn die Menschen doch wieder miteinander redeten und sich dabei nicht nur ereiferten, sondern auch gegenseitig zuhörten! Wenn es ihnen nicht so sehr darum ginge, Recht zu behalten und die andere Meinung zu verteufeln, sondern nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen.

Damals wurde die Idee der #VerständigungsOrte geboren – und wir waren erstaunt, wie schnell diese Idee Raum griff und wie viele Menschen im Lande unsere Sehnsucht teilten. Viele hatten schon längst angefangen, Angebote zu schaffen, bei denen Menschen wieder miteinander ins Gespräch kommen: sei es in digitalen Formaten, in kleinen Gruppen oder bei großen Veranstaltungen.

Einen kleinen Einblick finden Sie auf www.verständigungsorte.de.

Gleichzeitig wollten wir es genauer wissen: Wie steht es um die Verständigungsbereitschaft und -sehnsucht in unserer Gesellschaft? Zusammen mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa haben wir daher die Gemütslage der Deutschen erkundet. Herausgekommen ist unsere brandneue midi-Studie „Verständigungsorte in polarisierenden Zeiten“.

Spaltung unserer Gesellschaft?

Auf den ersten Blick scheint die Studie die Spaltung unserer Gesellschaft zu belegen: Vier von fünf Menschen in Deutschland nehmen eine solche Spaltung wahr. Zwei Drittel sind über konkrete gesellschaftliche Entwicklungen oder Ereignisse verärgert oder sogar wütend. Die Mehrheit vermeidet bewusst bestimmte Themen, um Konflikten aus dem Weg zu gehen. Und jeder Dritte hat wegen unterschiedlicher Meinungen zu polarisierenden Themen schon einmal den Kontakt zu Personen in seinem Umfeld verringert oder abgebrochen.

Das ist ziemlich erschütternd. Und doch lohnt ein genauerer Blick. So verläuft beispielsweise die gefühlte Spaltung nach Meinung der meisten nicht zwischen zwei gleich großen Lagern (wie etwa in den USA), sondern zwischen einer lautstarken Minderheit und einer großen Mehrheit. So groß die Herausforderungen auch sind: Es gähnt anscheinend doch kein tiefer Abgrund in der Mitte unserer Gesellschaft, und es gibt mehr, auf das sich Menschen einigen können, als Schlagworte wie „Spaltung“ und „Polarisierung“ nahelegen.

Drei mögliche Reaktionen

Angesichts solcher Befunde wie oben beschrieben erlebe ich in meiner Kirche häufig – stark vereinfacht – zwei Arten der Reaktion. Auf der einen Seite: „Oh, wie schrecklich; kommt, lasst uns entschlossen die Welt retten!“ Und auf der anderen Seite, ähnlich wie oben beschrieben: „Da können wir leider nichts ausrichten; ziehen wir uns zurück und konzentrieren wir uns aufs religiös-spirituelle Kerngeschäft!“ Wir als midi sind inzwischen der Meinung, dass es eine dritte Möglichkeit zwischen diesen beiden Reaktionen geben muss: fromm und politisch; einen Weg, der mutig für Verständigung eintritt, dabei geistlich geerdet bleibt und sich nicht entmutigen lässt – selbst wenn morgen die Welt unterginge, würden wir heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.

Die Rolle von Kirche und Diakonie

In einem Punkt hat uns unsere Studie richtig demütig gemacht. Am Anfang unserer Überlegungen hatten wir etwas großspurig gedacht: „Verständigung gehört zu unserem Kerngeschäft. Also: Lasst uns die Türen zu unserem Räumen öffnen und die Menschen zu Dialog einladen!“

Doch gerade einmal 16 Prozent der Befragten halten unserer midi-Studie zufolge Kirchengemeinden, Diakonie u. ä. für geeignete Umgebungen, um kontroverse gesellschaftliche Themen respektvoll und sachlich zu diskutieren. Also nicht einmal jede:r Sechste traut uns hier etwas zu! Damit haben wir es gerade noch so auf den vorletzten Platz geschafft – einen einzigen Prozentpunkt vor den sogenannten „sozialen“ Medien (die viele eher als Treiber denn als Schlichter von Streit und sozialer Spaltung wahrnehmen).

Von Kirche wird erschütternd wenig erwartet – und trotzdem engagieren wir uns. Allerdings nicht, indem wir uns als tonangebende Player gerieren, als pastorale Platzhirsche, die großmütig in Stadt und Land die verirrten Menschen zu sich einladen, um ihnen den rechten Weg zu zeigen. Sondern auf Augenhöhe und in Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Partnern; mit dem einen Ohr nah an Gott, mit dem anderen nah an dem, was vor Ort obenauf liegt, was die Menschen beschäftigt und Gemeinschaften zu zerreißen droht; und ohne vordergründig auf Profilierungschancen für die eigene Institution zu schielen.

Wir können in diesen angespannten Zeiten im besten Sinne demütig agieren: bereit, unserer Gesellschaft zu dienen mit dem, was wir in den aktuellen Herausforderungen zur Lösung beitragen können. Seelsorgliche Kompetenz etwa. Soziale Sensibilität und diakonische Expertise. Aber auch urbiblische Erfahrungen mit Schuld und Vergebung; mit einem Gott, der keinen verloren geben will; mit neuer, versöhnter Gemeinschaft, die sogar scheinbar absolut Trennendes überbrückt.

Mit all dem können wir, gemeinsam mit anderen, Orte schaffen für Austausch und Dialog. Diese Orte können, müssen aber nicht „unsere“ Orte sein, wie Kirchen, Diakonieeinrichtungen und Gemeindehäuser. Sondern oft und vermutlich sogar mehrheitlich wird die Wahl auf Orte fallen, die Menschen viel unmittelbarer einleuchten und emotional zugänglicher erscheinen: Kneipen, Bürgerhäuser, Vereinsheime, Kulturzentren, Marktplätze etc.

Kommunikation ist die DNA Gottes

Lassen Sie es uns wagen – einfach, weil es dran ist. Weil beides organisch zusammenhängt: wie es dem Gemeinwesen geht, in dem wir leben – und wie es uns als Gemeinschaft von Menschen geht, die mit Gott leben (vgl. Jeremia 29,7). Und weil Kommunikation, Verständigung, Versöhnung und grenzüberschreitende Gemeinschaft in die DNA Gottes und damit auch seiner Kirche eingeschrieben sind.

#VerständigungsOrte können daher Ausdruck einer jesusförmigen Kirche und Diakonie sein, die Verständigung sucht und Versöhnung lebt, ganz im Sinne der Franz von Assisi zugeschriebenen Worte:

Herr, lass mich trachten,
nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen;
und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.