„Vier von fünf Befragten nehmen eine Spaltung der Gesellschaft wahr“
Interview
mit Daniel Hörsch, Leiter der Studie „Verständigungsorte in polarisierenden Zeiten“ und Sozialwissenschaftlicher Referent bei midi.
Hallo Daniel Hörsch! Leben wir in einer gespaltenen Gesellschaft, und wenn ja, woran zeigt sich das?
Hörsch: Zunächst vorweg eine grundsätzliche Bemerkung: Ob wir in einer gespaltenen Gesellschaft leben, ist empirisch-wissenschaftlich hoch umstritten. Gemeinhin werden unterschiedliche Dimensionen einer gesellschaftlichen Spaltung unterschieden. Soziale Spaltung, politische Spaltung, wirtschaftliche Spaltung, kulturelle Spaltung. Steffen Mau hat diesbezüglich in seiner viel beachteten Studie „Triggerpunkte“ empirisch herausgearbeitet, dass für Deutschland nicht von einer Spaltung gesprochen werden könne, sondern von polarisierenden Rändern.
Etwas anders gelagert, verhält es sich, wenn man nach dem subjektiven Empfinden der Menschen mit Blick auf eine Spaltung der Gesellschaft fragt, wie wir es in unserer Studie getan haben. Hier ist der Befund mehr als eindeutig: Vier von fünf Befragten nehmen eine Spaltung der Gesellschaft wahr (82 %), allerdings nicht in zwei gleich große Lager, sondern die meisten nehmen eine Spaltung in eine kleine Minderheit und eine große Mehrheit wahr (48 %). Hier zeigt sich bereits eine Grundhaltung, die wir in unserer Studie herausarbeiten konnten: eine „Ja, aber“-Haltung. Diese zeigt sich auch mit Blick auf das Themenfeld Demokratiezufriedenheit. Das politische System wird von der Mehrheit der Befragten grundsätzlich befürwortet (61 %), mit dem Funktionieren der Demokratie sind allerdings zweidrittel der Befragten unzufrieden (60 %).
Indikatoren, an denen der gesellschaftliche Zusammenhalt – also das Pendant zur gesellschaftlichen Spaltung – unter anderem gemessen werden kann, sind das Solidarklima und das Gerechtigkeitsempfinden. Unsere Studie legt den Schluss nahe, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt als angespannt bezeichnet werden muss. So empfinden zwei Drittel der Befragten die sozialen Unterschiede als ungerecht (77 %). Auch sind Entsolidarisierungstendenzen zu erkennen, etwa, dass nur noch etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Meinung ist, dass sich Arme und in Not Geratene in unserer Gesellschaft auf Unterstützung verlassen können.
Welche Sorgen beschäftigen die Menschen in Deutschland am meisten?
Hörsch: Die größten Ängste der Bevölkerung betreffen den zunehmenden Hass (89 %), gesellschaftliche Konflikte (86 %), Rechtsextremismus (71 %), Inflation (70 %) und dann erst die Migration (57 %).
Erstaunlich ist, dass trotz der gesellschaftlichen Spannungen, dreiviertel der Befragten angeben, mit ihrem persönlichen Leben zufrieden zu sein (78 %). Etwas anders sieht es außerhalb des persönlichen Erfahrungsraums mit Blick auf die Gesellschaft aus. Hier trübt sich die Zuversicht deutlich ein. 85 Prozent der Befragten sehen die gesellschaftliche Zukunft mit Sorge. Das gesellschaftliche Zukunftsversprechen, dass es der jüngeren Generation in der Zukunft besser gehen wird, glaubt gegenwärtig fast niemand (7 %). Zweidrittel gehen davon aus, dass es der jüngeren Generation schlechter gehen wird. Der frühere Fortschrittsglaube ist einer Zukunftsskepsis gewichen.
Wie ist es um die Diskurskultur in unserer Gesellschaft bestellt?
Hörsch: Eine große Mehrheit von 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ist davon überzeugt, dass Diskussionen wichtiger Themen in der Öffentlichkeit – also im Fernsehen oder in anderen wichtigen Medien – heute weniger sachlich und respektvoll geführt werden als früher. Hier haben vor allem soziale Medien einen großen Einfluss auf die subjektive Wahrnehmung der Diskurskultur und der Umstand, dass es vor allem die polarisierenden Ränder sind, die populistisch die sozialen Medien zur Stimmungsmache zu nutzen wissen.
Ein weiteres Phänomen, das wir in unserer Studie sehen können, ist, dass die persönliche Lebenswelt häufig von pragmatischen Alltagsproblemen geprägt ist, die wenig strittig sind. Gesellschaftliche Triggerthemen wie die Arbeit der Bundesregierung, das Thema Migration oder der Rechtsruck sorgen hingegen für emotionale Reaktionen, die dann zu unversöhnlichen Diskurskonfliktlinien führen.
Inwiefern beeinflussen gesellschaftliche Spannungen persönliche Beziehungen?
Hörsch: Jeder Dritte hat persönlich schon erlebt, dass Diskussionen über polarisierende Themen unsachlich oder respektlos geführt wurden (36 %). Ebenso haben 32 Prozent wegen unterschiedlichen Meinungen zu polarisierenden Themen schon einmal den Kontakt zu Personen in ihrem Umfeld verringert oder abgebrochen. Insgesamt muss festgehalten werden, dass über polarisierende Themen vorzugsweise im engeren sozialen Umfeld gesprochen wird, also mit Freund:innen (64 %), mit dem engeren Familienkreis (59 %) oder in der Partnerschaft (57 %).
Die Studie zeigt ein hohes Bedürfnis nach Austausch und Verständigung. Wie sollte ein #VerständigungsOrt gestaltet sein, damit Bürgerinnen und Bürger sich dort gerne austauschen?
Hörsch: Um kontroverse gesellschaftliche Themen respektvoll und sachlich diskutieren zu können, wünschen sich die meisten Befragten eine Umgebung mit einer neutralen, unvoreingenommenen Moderation (75 %). Klare Regeln für die Kommunikation sehen 69 Prozent als wichtig an sowie 61 Prozent eine Anreicherung mit Expertenwissen und Fakten. Mehr als die Hälfte erachtet darüber hinaus einen geschützten Rahmen als notwendig, um ihre Meinung frei äußern zu können (59 %).
Woher ziehen Menschen in polarisierenden Zeiten ihre Kraft, und welche Rolle spielt dabei die Religiosität?
Hörsch: Es sind vor allem persönliche Beziehungen (56 %) und Freizeitaktivitäten (52 %), bei denen die Menschen mental auftanken können. Religiosität spielt für mehr als ein Viertel der Bürgerinnen und Bürger eine Rolle (27 %) und mehr als ein Drittel ist der Überzeugung, dass gläubige Menschen eine höhere Resilienz besitzen. Glaube strahlt ganz offensichtlich aus!
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Studie „Verständigungsorte in polarisierenden Zeiten“ steht hier zum Download.