Kirchenaustritte deuten

Von Hans-Hermann Pompe

„Dann sind Sie so etwas wie ein Missionar?“, fragte mein Nachbar im Zug. Ich hatte ihm erzählt, dass ich Gemeinden helfe Menschen zu erreichen, die keinen Zugang zum Glauben haben. Er fand meine Aufgabe völlig einleuchtend: Auch seine Firma hatte eine klare Mission – anderen IT-Sicherheit zu verkaufen. Und dass ich begeistert vom Glauben an Jesus sprach, fand er hochinteressant: In seinem Leben kam es ständig auf Vertrauen an.

Wie gewinnt man Menschen?

Derzeit verlieren wir durch Austritte Menschen, die in Kirchen-Mitgliedschaft keinen Sinn mehr sehen. Gottes Liebe als Kern der Kirche ist ihnen nicht zugänglich, und unsere Angebote berühren sie nicht mehr. Häufig ist ihnen längst der Glauben abhandengekommen.

Damit ist es ein Gottesproblem: Größere Teile unserer Gesellschaft kommen ohne Gott, Glauben, Gemeinde oder Gebet aus.

Manche in meiner Kirche tun sich mit Mission immer noch schwer. Wenn schon Mission, dann bitte möglichst unauffällig, irgendwie nebenbei, auf keinen Fall strategisch oder verbal. Das ist zum Glück eine Minderheit. Viele haben verstanden:

Die hohe Zahl der Kirchenaustritte ist eine enorme missionarische Herausforderung.

Denn wer zur Kirche gehört, ist meist leichter für das Evangelium zu erreichen: Es gibt Kontaktpunkte – sie müssen aber mit Leben gefüllt werden. Das zahlende Mitglied, dem die Relevanz des Evangeliums oder der Kontakt zur Kirche egal sind, wird zum Auslaufmodell.

Und wer nicht mehr oder noch nie Kontakt zum Evangelium hat, will angesprochen, geworben, motiviert, erreicht, beteiligt, gelegentlich auch in Ruhe gelassen werden – das nennt man normalerweise Mission.

Austritte sind ein starkes Signal

– allerdings innerkirchlich deutungsoffen. Sie werden verstanden als ...

Signal aus der Gesellschaft

„Was ihr anbietet, interessiert uns nicht (mehr) – zumindest nicht in den Formen, die ihr anbietet.“ Die Säkularisierungs-These (Abwendung von Religion in Europa) ist inzwischen in der Defensive, Religion und Glauben sind weiterhin da, sie verlagern sich aber in andere Bereiche wie Musik, Sport, Genuss, Wellness, Kultur etc. Das Hauptproblem ist die Resistenz bzw. das Desinteresse wachsender Teile der Gesellschaft am Evangelium von Christus, weil sie damit etwas hinter sich lassen bzw. ablehnen, was sie nie richtig kennengelernt haben.

Signal einer unaufhaltsamen Schrumpfung der Institution Kirche

Wenn nichts passiert, dann halbiert sich die Zahl der Mitglieder, sagt die Freiburger Studie („Kirche im Umbruch – Projektion 2060“). Die Gesamtzahl der Christen in Deutschland nimmt ab, auch wachsende Gemeinden fangen dies nicht auf, wachsen oft nur durch Wanderungen. Dass dies in weiten Teilen Europas ähnlich ist, dass andere gesellschaftliche Organisationen ähnlich Probleme haben, tröstet wenig.

Die Resignierten, die sich selber als Realisten empfinden, halten diese Entwicklung sowieso für unaufhaltbar. Manche sind tief verunsichert, weil die distanzierte Mitgliedschaft des liberalen Paradigmas sich als nicht mehr zukunftsfähig erweist (Gerhard Wegner).

Andere denken: Würden wir nur endlich mehr arbeiten, klarer Position beziehen, mehr beten (oder: ... hier bitte Entsprechendes einsetzen). Aber sie arbeiten sich daran in die Erschöpfung.

Signal einer geistlich entleerten Kirche

In Zeiten boomender Spiritualität und Sehnsucht nach tragenden Visionen in Krisen leidet die Kirche unter Selbstsäkularisierung (W. Huber), Selbstbanalisierung (I. Dalferth) oder erklärt die erlebbare Gemeinschaft der Christ*innen für zweitrangig.

Die Corona-Krise stellt gerade in nie geahnter Weise die Welt auf den Kopf. Der Zukunftsforscher Matthias Horx etwa erklärt lapidar, Gott und die Religionen spielten in dieser Krise kaum eine Rolle, andererseits benutzt er für die Analyse und den Blick in die Zukunft religiös hochaufgeladene Sprache und Bilder wie Enthüllung, Erweckung, Entscheidung, Trauer, Zukunftsräume, Vision etc.1 Was er für die Zukunft braucht, holt er sich aus der gerade für obsolet erklärten christlichen Tradition.

Signal für verweigerte, zu schwache oder verpasste Reformen

Anzeichen gefällig? Wir arbeiten und werden wahrgenommen mit staatsanalogen Formaten (z.B. Kirchensteuer, Körperschaft des öffentlichen Rechtes, Privilegien der hinkenden Trennung), aber eine wachsende Zahl von Menschen macht gerade das misstrauisch.

Oder: Nur 4 % aller Mitglieder nehmen den Gottesdienst als zentrales Angebot der Kirche wahr – daran will und werde ich mich nie gewöhnen.

Oder: Drei Monate ohne Gemeindeveranstaltungen – das ‚Danach weiter wie bisher‘ ist vielen in der Kirche fraglich geworden, ohne dass uns schon eine überzeugende Vision einer relevanten und resonanten Kirche im 21. Jahrhundert geschenkt wurde. Die elf Leitsätze des EKD-Zukunftspapiers „Kirche auf gutem Grund“ könnten einen Raum dafür öffnen.

Willkommenes Signal für Rechthaber

Wenn die Kirche nur anders wäre, dann würden die Menschen nicht austreten. Interessanterweise ähneln sich hier strukturell die Kritiker von Rechtsaußen (mehr Bekenntnis und Bibeltreue, klare Verkündigung, Sünde benennen, die Uni-Theologie mit ihrem Unglauben aufgeben) und Linksaußen (mehr Pazifismus, klare Kante gegen Kapitalismus, alle Energie in Gerechtigkeits- oder Klimakrise). Beide Flügel meinen zu wissen, was dran ist, und auch sehr gut, wer am Desolaten schuld ist: Die anderen – inkl. der breiten Mitte der Unklaren.

Sind die Kirchenaustritte ein Signal Gottes?

Ich möchte diese Deutungen (und mögliche weitere) ungern alternativ diskutieren: In den meisten steckt ein Teil Wahrheit. Das Signal der Austritte ambivalent zu denken ist kein Hinken auf beiden Seiten, sondern gehört in den umfassenden Prüfungsprozess, den Paulus uns empfiehlt. Was bisher nur schwach hörbar wird, ist die Frage, ob Austritte auch ein Signal Gottes sein können und wenn ja, welches.

„Money talks“ habe ich etwa bei dem englischen Bischof John Finney gelernt. Seine Deutung von Krise und Aufbruch in der anglikanischen Kirche geht mir seit langem nach: „Nachdem Gott vielmals und auf verschiedene Weise zu unserer Kirche gesprochen hat, wählte er zuletzt eine Sprache, die wir schwer überhören können: Die Sprache des Geldes“.

Es könnten also die schwierigeren Zeiten, auf die wir (bei immer noch großen Finanzmöglichkeiten!) zusteuern, auch ein Werben des Herrn der Kirche um seine Bot*innen sein. Mission heißt: Sendung, Auftrag.

Mission nur um Kirchenaustritte zu verhindern wäre ein schlechtes Motiv für Mission, weil damit – eher ungewollt – der Selbsterhalt der Organisation vor den Auftrag Jesu tritt. Die Reihenfolge ist biblisch gesehen eindeutig: Das Evangelium als Schatz der Kirche hat seine eigene Macht, Menschen zu berühren, zu verwandeln und hinzuzufügen. Und daraus entsteht Kirche. Unser Auftraggeber fragt nicht nach Ergebnissen und Wirkungen, sondern nach Treue und Zuverlässigkeit. Egal was gelingt und was nicht, wir dürfen Knechte sein, die ihm verpflichtet sind (Luk 17,10).

Übrigens: Mein Zugnachbar und ich teilten kurz vor Hannover etwas. Er erklärte mir die Sicherheitsfunktion meines Laptops, und ich überspielte ihm eine freie Bibelversion auf seinen. Und stellte ihn im Stillen unter Gottes Segen.


Fußnoten

  1. Matthias Horx, Die Zukunft nach Corona, Berlin 2020, 19. 59ff.