Wie bleibt Christlichkeit in einer sozialen Organisation oder Einrichtung spürbar?
Das „di“ in midi steht für „diakonische Profilbildung“. Hinter diesem etwas sperrigen Begriff verbirgt sich die Frage, worin sich die Diakonie in Deutschland von anderen Anbieter:innen sozialer Dienstleistungen wie etwa der Arbeiterwohlfahrt oder dem Roten Kreuz unterscheidet. Die Diakonie Deutschland ist der soziale Dienst der evangelischen Kirche. Aber woran erkennt man etwa in Wohn- und Altersheimen, in der Krankenpflege oder bei der Obdachlosenhilfe, dass es sich um spezifisch evangelische Angebote handelt?
Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Zunächst einmal ist die Suppe, die man obdachlosen Menschen ausschenkt, weder evangelisch noch katholisch. Und auch die pflegerische Leistung wird bei einer christlichen Fachkraft nicht anders aussehen als bei einer atheistischen. Kann man erwarten, dass die Krankenschwester nicht nur professionell den Verband wechselt, sondern auf Wunsch auch mit einem betet?
Interessanterweise gibt es auf Seiten der Klient:innen tatsächlich die Erwartung, dass es beispielsweise in einem Krankenhaus oder Altersheim in diakonischer Trägerschaft „christlicher“ zugeht als andernorts. Doch worin genau soll diese Christlichkeit bestehen?
Zunächst einmal: Einen nicht nur professionellen, sondern auch freundlichen Umgang können Sie mit gutem Recht auch bei anderen Anbieter:innen erwarten. Und auch der in unserem Zusammenhang gern zitierte Bezug auf ein vermeintlich christliches Menschenbild oder auf bestimmte Werte hilft hier nicht wirklich weiter: Das Menschenbild sieht – zumindest hierzulande – bei den weltlichen Sozialorganisationen nicht viel anders aus als bei uns, auch wenn sie das Wort „Gott“ dabei nicht in den Mund nehmen. Und Werte wie Nächstenliebe, Mitgefühl oder Solidarität haben wir Christ:innen auch nicht für uns exklusiv.
Was aber unterscheidet dann eine diakonische Dienstleistung von einer nicht-diakonischen? In jedem Fall der Gottesbezug, möchte man meinen. Eine spirituelle Kraftquelle, auf die Mitarbeitende wie Klient:innen gleichermaßen zurückgreifen können, ein mit der Leibsorge einhergehendes Angebot von Seelsorge sowie eine Grundatmosphäre, die von christlicher Hoffnung und Zuversicht geprägt ist. In anderen Worten: Glaube, Liebe und Hoffnung. So jedenfalls sollte es idealerweise aussehen. Doch wie soll das gewährleistet werden?
Bei den Mitarbeitenden unserer diakonischen Einrichtungen und Beratungsstellen kann man nicht automatisch Christlichkeit voraussetzen. Weniger als die Hälfte der Bevölkerung gehört einer Kirche an, im Osten noch deutlich weniger – das spiegelt sich auch in der Belegschaft wider. Diakonische Unternehmen müssten vielerorts schließen, würde man von den Mitarbeitenden Kirchenmitgliedschaft verlangen, zumal das rechtlich gar nicht zulässig ist. Außerdem sagt Kirchenzugehörigkeit wenig über die persönliche Christlichkeit aus.
Dazu kommt, dass die Diakonie in Deutschland seit den 90er Jahren ihre Strukturen zunehmend professionalisiert und stärker auf wirtschaftliche Effizienz ausgerichtet hat, um staatliche Vorgaben zu erfüllen. Der diakonische „Dienst in der Lücke“ bzw. der diakonische Auftrag am Schwächsten wird immer noch erfüllt, auch dort, wo diese Hilfe nicht finanziert wird. Doch darf dadurch nicht die Existenz der Einrichtung gefährdet werden.
Wie aber erhält man unter solchen Vorzeichen das Christliche einer sozialen Organisation, einer Einrichtung oder eines Angebots aufrecht?
Die Antwort kann nicht sein, Christlichkeit von den Mitarbeitenden einzufordern. Das wäre nicht nur praktisch unmöglich, sondern widerspräche auch dem Geist des Evangeliums. Denn: Die zwölf Jünger, die Jesus berief, waren allesamt keine Christen, sondern einfache Jüdinnen und Juden – oft nicht einmal besonders fromm. Erst durch ihre Zeit mit Jesus und ihren Dienst für ihn wuchsen sie in ihre Berufung hinein.
Ich sehe vor allem drei Ansatzpunkte, um die Christlichkeit in einer sozialen Organisation oder Einrichtung zu sichern: Zum einen muss die jeweilige Leitung dies wollen, sonst wird es schwer. Sodann braucht es geeignete Strukturen, damit das Christliche „fließen“ kann. Und schließlich muss es bei der Belegschaft einen gewissen Resonanzraum des Christlichen geben.
Zunächst: Die Leitung muss es wollen.
Sie prägt maßgeblich Stil und Ausrichtung einer Organisation. Ohne ihre klare Orientierung droht das Christliche in die Bedeutungslosigkeit zu versinken und vollzieht sich nur im Untergrund. Es braucht Menschen an der Spitze, die das Evangelium als prägende Grundlage ernst nehmen und dies auch sichtbar machen – durch Entscheidungen, Kommunikation und Prioritäten.
Sodann: Strukturen sind entscheidend.
Es braucht äußere Symbole wie Kreuze, Kerzen, Bibeln oder Kunstwerke, die das Christliche sichtbar machen. Ebenso wichtig sind feste Zeiten – etwa für Andachten, Rituale, Feiern oder Auszeiten wie Einführungs- und Oasentage – sowie besondere Orte wie Kapellen, „Herrgottswinkel“, Kreuzwege oder Kunstinstallationen. Diese Elemente bieten Gelegenheiten, Kraft zu schöpfen, aus der spirituellen Quelle zu trinken oder sich mit dem Christlichen bewusst auseinanderzusetzen und es erlebbar zu machen.
Und schließlich: Ein Resonanzraum bei der Belegschaft ist unerlässlich.
Das bedeutet nicht, dass alle gläubig sein müssen. Aber es braucht „Ankermenschen“, wie die kurhessische Bischöfin Beate Hofmann sie nennt – Mitarbeitende, die den christlichen Geist bewusst leben und sichtbar machen. Ebenso wichtig sind „Ankergemeinschaften“: Gebetszeiten, Kleingruppen oder Austauschrunden, in denen sich Christinnen und Christen gegenseitig stärken, ermutigen und inspirieren. So wird der persönliche Glaube der Mitarbeitenden vertieft, in die Tat umgesetzt und die Flamme lebendig gehalten.
Wo diese drei Dinge zusammenkommen, entsteht ein Klima, in dem Christlichkeit spürbar bleibt, auch wenn nicht alle persönlich an den Glauben gebunden sind. Je mehr davon fehlt, desto schwieriger wird es.
Toolbox Diakonisches Profil und Toolbox Evangelisches Profil
Wir haben – ganz neu – in Zusammenarbeit mit Bischöfin Beate Hofmann und anderen eine Toolbox Diakonisches Profil entwickelt. Sie unterstützt diakonische Einrichtungen dabei, ihr einzigartiges Profil zu stärken und das Besondere der diakonischen Sozialarbeit sichtbar zu machen.
Mit einem Fragetool zur Selbsteinschätzung, praktischen Anregungen zur Profilgestaltung und einer Handreichung für Gespräche zwischen Mitarbeitenden und Leitung hilft sie, zentrale Werte wie Achtsamkeit, Empathie und Ethik im Alltag spürbar zu machen. Dieses „Mehr“ an Vertrauen und christlicher Eigenart, das Klient:innen und Mitarbeitende von diakonischen Einrichtungen erwarten, wird durch die Toolbox gezielt gefördert – von der Fehlerkultur bis zur spirituellen Offenheit.
Und weil das nicht nur für diakonische Einrichtungen, sondern auch kirchliche Verwaltungen, Bildungsträger u. a. gilt, hat midi eine parallele Toolbox Evangelisches Profil entwickelt. Bleiben Sie dran!