Jesus hat beides getan: gepredigt und geheilt

Von Dr. Klaus Douglass

Über 500 Personen haben am Freitag und Samstag an dem Sozialraum-Kongress WIR&HIER teilgenommen, der von Diakonie Deutschland und der EKD gemeinsam durchgeführt wurde, und bei dem wir auch als midi mitgemischt haben. So akademisch der Begriff „Sozialraum“ auch daherkommen mag – das Thema ist wirklich dran in Kirche und Diakonie!

Die Kirche ist nicht erst seit Corona im Umbruch. Seit gut 20 Jahren lösen sich die Grenzen vieler klassischer Ortsgemeinden durch Fusionen, Kooperationen bzw. schlicht aus Sparzwang mehr und mehr auf. Viele sind dabei auf der Suche nach einer neuen Orientierung. Immer öfter kommt es dabei vor, dass sich Christinnen und Christen, ja auch ganze Gemeinden als „Salz der Erde“ voll und ganz in die Fragen und Probleme der sie umgebenden Gesellschaft investieren.

Sie nehmen die regionalen Lebensbedingungen in den Blick und versuchen, sie zu verbessern. Das tun sie nicht allein, sondern arbeiten eng mit Kommunen, lokalen Einrichtungen, Institutionen und anderen lokalen Playern zusammen. Ziel ist es, die soziale Struktur eines Dorfes oder einer Stadt zu stärken und das nachbarschaftliche Miteinander zu fördern. Kaum irgendwo arbeiten Kirche und Diakonie so eng zusammen wie in diesen Sozialraumprojekten, darum ist dieses Thema auch für uns als midi so interessant. Es geht dabei nicht nur darum „Kirche für andere“ sondern „Kirche mit anderen“ zu sein.

Kritiker fragen mitunter, ob sich die Kirche auf diese Weise nicht selbst auflöse. Doch die Erfahrung ist oft eine andere: Kirche, die diesen Weg geht, wird als hoch relevante Größe wahrgenommen. Immer wieder kommt es dabei zu Gesprächen darüber, was Christinnen und Christen dazu motiviert, sich derart in unserer Gesellschaft zu engagieren. Auch das spiegelte sich auf dem WIR&HIER-Kongress anhand von rund 30 praktischen Beispielen.

Viele dieser Sozialraum­initiativen wirken in hohem Maße missionarisch. Fast möchte man sagen: ob sie es wollen oder nicht.

Denn manchmal war auf dem Kongress zu hören, man wolle „auf gar keinen Fall“ missionarisch sein. Hinter solchen Aussagen stecken wahrscheinlich sehr unschöne Erfahrungen von Mission. Es ist in der Tat gut, wenn wir uns von ideologischen oder übergriffigen Formen von Mission abgrenzen. Aber wollen wir darum wirklich auf die Sache selbst verzichten?

Uns als midi geht es deshalb darum, eine missionarische Grundhaltung zu fördern, die den Menschen in seinen ganz konkreten Bedürfnissen in den Blick nimmt. Dazu gehört ggf. auch das Bedürfnis, mit religiösen Fragen in Ruhe gelassen zu werden bzw. in der eigenen Religion verbleiben zu dürfen. Wenn wir anderen Menschen helfen, tun wir das selbstverständlich um ihrer selbst willen – um ihre Not zu lindern, um die Lebensqualität und das Zusammenleben in einem Sozialraum zu fördern – und nicht als bloßes Mittel zum Zweck, weil wir sie „bekehren“ wollen. Auch der barmherzige Samariter, den Jesus uns zum Beispiel setzt, wollte nicht bekehren, sondern helfen, weil der Verletzte ihm leidtat.

Doch Jesus hat beides getan: gepredigt und geheilt. Mission und Diakonie sind die rechte und die linke Hand des Glaubens.

Gerade wenn es uns um die Menschen geht, wenn ihre leibliche und seelische Not uns ans Herz greift, wenn uns ihr Schicksal „jammert“ (griechisch: esplanchnisthē), wie es öfter von Jesus heißt – wollen wir ihnen dabei wirklich das Wichtigste und Beste vorenthalten, was wir ihnen geben können: das Evangelium von Jesus Christus?

Gefreut habe ich mich, dass auf dem Kongress auch Vertreter*innen der so genannten Fresh X-Bewegung vertreten waren. Sie kommen theologisch meist aus einer anderen Richtung, aber verfolgen den gleichen Grundansatz: nicht von den bestehenden kirchlichen Strukturen und Gemeinden, sondern von Menschen, Herausforderungen und Bedürfnissen vor Ort aus zu denken und zu handeln. Noch fremdeln beide Bewegungen etwas miteinander, aber hier kommt zusammen, was zusammengehört.

Birgit Dierks, die bei midi unter anderem das deutschlandweite Fresh X-Netzwerk leitet, sagte in einem der Workshops, sie verstehe Fresh X mittlerweile mehr von der Diakonie als von der Kirchenentwicklung her – ein spannender Gedanke! Mehr davon gibt es auf unserer digitalen Tagung „Diakonie und Fresh X im Sozialraum“ am 4. Oktober 2021.

Alles in allem war ich total angetan von diesem wunderbaren Kongress. Kirche tut einfach gut daran, sich endlich einmal nicht um sich selbst und ihren Selbsterhalt, sondern um die Menschen um sie herum zu kümmern. Dazu braucht es eine „hinhörende Kirche“, wie der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, auf dem Kongress sagte. Und Anna-Nicole Heinrich, die neue Präses der EKD, ergänzte, die Kirche müsse sich mehr herausbewegen: dorthin, „wo das Leben steppt“. Und brachte in ihrem Schlusswort das Ganze auf die einprägsame Formel: „Raus aus der Bubble – hinein in den Schaum!“