Fünf Jahre in Zeiten des Wandels

Von Dr. Klaus Douglass

Es ist kaum zu fassen: Heute ist mein letzter Arbeitstag – nicht nur bei midi, sondern überhaupt. Über 40 Jahre berufliche Tätigkeit sind wie im Flug vergangen. Angefangen bei rund 25 Jahren Gemeindearbeit, über zehn Jahre als theologischer Referent der Landeskirche (Hessen-Nassau) und schließlich die letzten fünf Jahre als Direktor bei midi in Berlin. Und nicht zu vergessen mein einjähriges Intermezzo im Personalreferat der EKHN Ende der Nullerjahre.

Sinnierend gehe ich durch den Flur meiner Abteilung, halte hier und dort einen kleinen Plausch. Meine Sachen habe ich schon in den letzten Tagen aufgeräumt. Ein paar Abschlussgespräche stehen noch an. Handy und Laptop werde ich nachher abgeben und das war es dann.

Was für eine Reise! Als ich vor fünfeinhalb Jahren den Anruf bekam, dass man mich zum Direktor von midi berufen wolle, kam dies völlig unerwartet. Ich war gerade 61 geworden und sah mich meine letzten Dienstjahre im Zentrum Verkündigung der EKHN in Frankfurt am Main verbringen. Ich befand mich dort definitiv in meiner Komfortzone. Ich tat etwas, was ich gut konnte, was mich aber nach zehn Jahren nicht wirklich an meine Grenzen brachte. Die Berufung nach Berlin hat das grundlegend verändert.

Vom Komfort in die Krise: Mein unerwarteter Wendepunkt

Es fing schon damit an, dass pünktlich zu meinem Dienstbeginn im März 2020 Corona in Deutschland Einzug hielt. Meine erste Diensthandlung bestand darin, mein Team ins Homeoffice zu verabschieden. Und Corona war ja nur die erste einer ganzen Reihe von Krisen, die seither unser Land beschäftigen.

Auch in Kirche und Diakonie sieht man sich seither genötigt, auf diese vielfältigen Krisen zu reagieren, mitunter so stark, dass viele Mitarbeitende versucht sind, frustriert aufzugeben, weil sie den Eindruck haben, nicht mehr das tun zu können, wofür sie eigentlich mal angetreten waren. Statt fröhlich die Segel zu setzen, das Ruder in die Hand zu nehmen oder Netze auszuwerfen, sind viele seither damit beschäftigt, Lecks zu stopfen, um das Boot gegen das eindringende Wasser zu schützen.

Re-agieren oder Pro-agieren: Wie Kirche und Diakonie die Zukunft gestalten

Die Frage, die uns als Zukunftswerkstatt von Kirche und Diakonie seither umtreibt, lautet bis heute: Wie kommen wir vom bloßen Re-agieren hin zum fröhlich-entschiedenen Agieren – oder besser noch: zu einem Pro-agieren, das nicht abwartet, was kommt, sondern Entwicklungen aktiv mitgestaltet und prägt? Wie gelingt es uns, gesellschaftlichen Dynamiken nicht nur zu folgen, sondern – wie wir bei midi gern sagen – „vor die Welle“ zu kommen? Und wie hören wir auf, bloß auf äußere Entwicklungen zu reagieren, sondern beginnen stattdessen, mit der Bibel in der einen und der Zeitung in der anderen Hand selbst Impulse zu setzen, die unsere Gegenwart sichtbar verändern?

Ich könnte mich jetzt seitenlang über die Erkenntnisse ergießen, die wir in den vergangenen fünf Jahren gewonnen haben, aber das würde den Rahmen dieses Editorials völlig sprengen. Vielleicht beschränke ich mich auf drei.

Drei Lektionen aus fünf Jahren – und was noch kommt

Erstens: Die alten Landkarten und Wegweiser funktionieren nicht mehr.

Schon deutlich vor Bundeskanzler Scholz sprachen wir bei midi davon, dass wir uns gesellschaftlich wie kirchlich in einer Zeitenwende befinden. Wir leben in disruptiven Zeiten – Zeiten, in denen sich Entwicklungen nicht mehr logisch fortschreiben lassen und sich aus den Trends von gestern kaum noch ableiten lässt, wie die Zukunft aussehen wird.

Über weite Strecken der Geschichte war einigermaßen planbar, was der nächste Tag bringt. Heute ist das anders. Wir haben keine Landkarte mehr für das, was vor uns liegt. Bewährte Erfahrungen und Lösungsmodelle greifen nicht mehr und Traditionen, die über Jahrhunderte hinweg Menschen Heimat geboten haben, geben heute immer weniger Menschen Halt.

Genau hier setzt unsere Arbeit bei midi an: Wir machen uns auf die Suche nach dem, was inmitten dieser disruptiven Zeiten bereits funktioniert. Wo die Zukunft, zu der hin wir unterwegs sind, bereits jetzt aufblitzt – mal sichtbar und selbstbewusst, mal leise und unscheinbar, mal im Gewand des Vertrauten, mal in völlig neuer Gestalt. Wenn ich hier schreibe: Wir haben keine Landkarte, heißt das nicht, dass wir orientierungslos wären. Was die Zukunft betrifft, haben wir zwar keinen vorgezeichneten Weg – aber wir haben einen Kompass.

Zweitens: Die Zukunft der Kirche entscheidet sich an der erneuerten Verbindung von Mission und Diakonie.

Unser „Kompass“ bei midi ist das doppelte Hören – auf Gott und die Menschen. Wer nur auf Gott hört, redet schnell an den Menschen vorbei. Theologie ohne Zuhören wird zur Monologmaschine. Wer dagegen nur auf Menschen hört, verliert den göttlichen Auftrag aus dem Blick – das, worum es uns als Kirche geht: nämlich Menschen mit dem lebendigen Gott in Berührung zu bringen.

Deshalb gehören Sozialwissenschaft, Diakonie und sozialräumliches Arbeiten zu midi – um im Auftrag Gottes auf die Menschen zu hören und wahrzunehmen, was sie brauchen und hoffen (vgl. Markus 10,51). Deshalb gehören aber auch Mission, Bibeldidaktik und die Entwicklung einer Sprachfähigkeit im Glauben zu midi – um immer wieder neu auf Gott zu hören und seine Stimme zur Sprache zu bringen (vgl. Joh 10,27). Die Kunst des doppelten Hörens, wie wir sie bei midi verstehen, ist kein Spagat, sondern eine Haltung.

Drittens: Die Gesundung der Kirche wird nicht durch die gefühlt 100ste Kirchenreform hervorgerufen, sondern durch die immer wieder neue Hinwendung zu Gott.

Ich meine damit nicht, dass die Kirche „nicht fromm genug“ wäre – wohl aber, dass sie sich oft viel mehr mit sich selbst als mit Gott beschäftigt. Luther hat das schon in seiner ersten These auf den Punkt gebracht: Die Hinwendung zu Gott ist kein einmaliger Akt, sondern eine lebenslange Übung. Kirche – davon sind wir bei midi überzeugt – lebt nicht davon, dass sie sich ständig neu reformiert, sondern dass sie sich unterbrechen lässt. Denn Gott ist kein Konzept, sondern ein Gegenüber. Und das Beste daran: Man muss nicht auf den nächsten großen Wurf warten. Man kann einfach anfangen. Jetzt. Dass das geht, haben wir bei midi gezeigt – und werden es, mit Gottes Hilfe, weiter tun.

Dankbarkeit und Ausblick: Was uns die letzten Jahre gelehrt haben und was noch kommt

Im Rückblick auf meine Zeit bei midi bin ich durch und durch dankbar. Wem ist es schon vergönnt, in den letzten fünf Dienstjahren so viel Schönes und Hoffnungsvolles zu erleben? So viele Aufbrüche, so viele Modelle des Gelingens.

Ich bin den Menschen dankbar, die mir das damals zugetraut (und zugemutet) haben – allen voran Michael Diener, Thies Gundlach, Ulrich Lilie und dem damaligen midi-Kuratorium. Ich bin meiner wunderbaren Frau dankbar, mit der ich gemeinsam entschieden habe, dieses Abenteuer anzunehmen. Und ich bin meinem Team dankbar – fachlich brillant, menschlich warmherzig, humorvoll, aufrichtend. Danke, dass ihr so manche offenkundige Schwäche eures Direktors mit gnädigem Humor ertragen habt. Ich danke auch meiner Kirche, die mich für diese Aufgabe freigestellt hat. Überhaupt finde ich es großartig, dass zwei so große und mächtige Organisationen wie Kirche und Diakonie sich den Luxus leisten, eine Abteilung zu gründen, die den Auftrag hat, über ihre eigenen Grenzen hinauszublicken – und das sogar offiziell. Vor allem aber: Ich bin Gott dankbar. Diese fünf Jahre waren anstrengend, aber sie waren auch reich, erfüllend und herausfordernd im besten Sinn.

Danke auch Ihnen, dass Sie meine gelegentlich überlangen Texte so geduldig gelesen haben. Ich habe tatsächlich auf jeden einzelnen Artikel Rückmeldungen bekommen – aufmerksam, freundlich, manchmal kritisch, aber immer wertschätzend. Wenn Sie mir zum Abschied noch ein paar Worte mitgeben möchten: Mein Team hat ein kleines Padlet vorbereitet. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie dort einen Gruß hinterlassen. Denn für mich war’s mehr als nur ein Job. Danke, dass Sie Teil davon waren.

Ihr Klaus Douglass


PS: Noch etwas, das mir am Herzen liegt: Ich bin wirklich stolz, dass wir bei midi im Mai unser „next big thing“ anstoßen werden. exMove heißt unser brandneues Exnovationstool, das wir auf den Weg bringen.

Alle reden von Innovation – von Weiterentwicklung, von ständiger Verbesserung. Auch wir bei midi arbeiten an vielen innovativen Konzepten. Aber: Für Innovation braucht es Platz. Wir können nicht einfach immer Neues auf Altes stapeln, ohne uns irgendwann selbst zu überfordern. Manchmal ist es dran, bewusst auszuräumen. Nicht nur zu lernen, sondern gezielt zu verlernen.

Deshalb laden wir am 12. und 13. Mai zu unserer Frühjahrstagung ein: „Mut zum Schluss. Was passiert, wenn wir aufhören?“ Mit starken Impulsen, spannenden Gästen – und dem offiziellen Start von exMove. Ich bin dann ganz frisch im Ruhestand – und natürlich dabei. Vielleicht sehen wir uns dort?