OK Doomer? Warum der Kollaps nicht gleich das Ende der Welt bedeuten muss
Die folgenden beiden Texte beschäftigen sich, ausgehend von Erfahrungen auf dem Kollapscamp Ende August 2025 in Kuhlmühle/Brandenburg, mit der Rolle von Kirche und Diakonie in ökologischen und gesellschaftlichen Kollapsen. Der erste Text von Walter Lechner liefert einen Überblick über das Thema, während der zweite Text von Gabriela Hund spezifisch auf emotionale Arbeit und Seelsorge eingeht. Beide Texte gehören zusammen und beziehen sich aufeinander.
Hand aufs Herz: Halten Sie die Analysen des Weltklimarats IPCC, die für alles jenseits von 2 Grad Erderwärmung ein unkontrollierbares und in weiten Teilen katastrophales Szenario prognostizieren, für einigermaßen seriös?
Und: Können Sie der Mehrheit der Klimawissenschaftler:innen folgen, die eine Begrenzung auf 1,5 bis 2,0 Grad nicht mehr für möglich halten und damit das Pariser Klimaabkommen praktisch beerdigen?
Wenn Sie auf beide Fragen mit Ja antworten: Was macht das mit Ihnen? Möchten Sie sich die Welt, die daraus folgt, vorstellen? Können Sie es? Und was resultiert für Sie daraus?
Zu dieser sich bereits ereignenden und mangels adäquater Vergleichserfahrungen eigentlich kaum vorstellbaren Klimakatastrophe hinzu kommen weitere hoch beunruhigende Entwicklungen: das größte Artensterben seit 66 Millionen Jahren, eine wachsende Zahl von Kriegen und bewaffneten Konflikten, ein globaler Demokratieverlust sowie Rekordumfragewerte rechtsextremer Parteien nicht nur in Deutschland.
Engagement für Ökosysteme, Frieden und Demokratie scheinen also weiter angezeigt, vielleicht mehr denn je. Und gleichzeitig drängen sich angesichts all dieser Evidenzen Fragen auf, die über alle Versuche, das Schlimme abzuwenden, hinausgehen, nämlich:
Was, wenn eben nicht alles gut ausgeht?
Was tun wir dann?
Und: Wer wollen wir in einer solchen Welt sein?
Kollapscamp – Utopien für eine dystopische Welt
Am letzten Augustwochenende 2025 kamen im nordbrandenburgischen Kuhlmühle bis zu 1000 Menschen aus ganz Deutschland und anderen europäischen Ländern zusammen, um sich genau diesen Fragen zu stellen.
Zum ersten „Kollapscamp“ versammelten sich Klimaaktivist:innen von Fridays for Future, Ende Gelände, Extinction Rebellion und der ehemaligen Letzten Generation, Globalisierungskritiker:innen, Omas gegen Rechts, Anti-Atom- und Jugendumweltbewegte, Menschen aus der Hacker- und der Erneuerbaren-Szene und aus der SoLaWi (Solidarische Landwirtschaft)-Bewegung. Das Spektrum erstreckte sich von der bürgerlichen Linken über Menschen aus der queeren Community bis hin zu Christians for Future. Die älteste Teilnehmerin war 85, die jüngsten waren Kleinkinder.
Die Organisator:innen kamen vor allem aus der klimaaktivistischen Szene – und hatten für das Event tatsächlich kaum geworben; die Freischaltung der Website reichte, dass die Tickets für das Kollapscamp innerhalb weniger Wochen ausverkauft waren.
Dabei forderte das selbstorganisierte Camp neben dem Teilnahmebeitrag einiges an Engagement und Eigenverantwortung: Jede:r Teilnehmer:in musste Arbeitsschichten übernehmen – von Toilettenputzen übers Schnippeln in der Küfa (Küche für alle) bis hin zu einem liebevoll gestalteten Kids Space. Übernachtet wurde in selbst mitgebrachten Zelten.
Die grob geschätzt hundert Workshops spannten den Bogen von solidarischem Preppen und Selbstverteidigung über emotionale Arbeit bis hin zu kompletten Katastrophen-Helfer:innen-Lehrgängen. Damit war das Kollapscamp auch ein Versuch, der extremen Rechten, die seit jeher von – allerdings eher ideologisch als wissenschaftlich begründeten – Weltuntergangs- und Dekadenznarrativen lebt, und deren individualistischem Preppertum ein besseres, weil solidarisches Konzept entgegenzusetzen.
Ein engagiertes Ja zum Leben
Wer mit der Erwartung nach Kuhlmühle kam, einer Ansammlung von depressiven No-Future-Kids und resignierten Weltuntergangsprophet:innen zu begegnen, wurde enttäuscht. Die abgelegene kleine Siedlung nahe Wittstock an der Dosse, die früher der HJ und später Stasi-Mitarbeitenden als Erholungsort gedient hatte und heute von einer solidarischen Gemeinschaft in geduldiger kleinschrittiger Arbeit revitalisiert wird, war für vier Tage Zentrum für Menschen, die sich leidenschaftlich für ein gutes Leben begeistern – und sich meist seit vielen Jahren, viele seit Jahrzehnten, dafür engagiert einsetzen. Entsprechend stand nicht nur thematische Arbeit, sondern auch Feiern und Gemeinschaft auf dem Programm. Und man kann es nicht anders sagen: Die Stimmung war gut! Möglicherweise auch aufgrund der Erfahrung, endlich einmal unter Menschen zu sein, die ebenso wenig wegschauen und das Offensichtliche ignorieren wollen wie man selbst.
Die größten Aha-Effekte diesbezüglich stellten sich bei mir bei einer zentralen Diskussionsveranstaltung auf dem „Dorfplatz“ des Camps ein, bei der Organisator:innen und Expert:innen auf dem Podium saßen. Ein Podiumsgast deutete dabei mit Blick auf manche schwangere Teilnehmerinnen auf dem Camp an, aus seiner Sicht wäre es nur sehr schwer moralisch verantwortbar, angesichts des anstehenden Kollapses Kinder zu bekommen (eine Position, die – nebenbei bemerkt – inzwischen weit über die entstehende Kollapsbewegung hinaus im gesellschaftlichen Mainstream angekommen ist; vgl. eine entsprechende globale Umfrage, zitiert bei Panu Pihkala). Der darauffolgende aus der Breite des Publikums lautstark vorgebrachte Widerspruch machte deutlich, dass diese Frage zwar sehr viele auf dem Kollapscamp bewegt, die negative Antwort aber keinesfalls mehrheitsfähig ist. Vielmehr wurde in den – oft sehr emotional vorgetragenen – Statements der Teilnehmenden spürbar, welche Hoffnungen sie trotz aller dystopischen Aussichten auch mit dem Leben zukünftiger Generationen verbinden. Ein anderer Podiumsgast versuchte, einen Grundsatzkonsens zwischen den verschiedenen Positionen zu formulieren, und resümierte, dass alle auf dem Camp letzten Endes für das Leben wären.
Eine weitere leidenschaftliche Debatte entzündete sich bei der Podiumsdiskussion, als Tadzio Müller, der mit Abstand bekannteste Mitorganisator des Kollapscamps, die Behauptung aufstellte, die Klimabewegung wäre gescheitert, und es wäre jetzt die einzige Aufgabe, sich auf das solidarische Leben im Kollaps vorzubereiten. Müller, Mitgründer von Ende Gelände und eine schillernde Figur des Klimaaktivismus, hatte sich schon im Vorfeld mehrfach entsprechend geäußert, und nun wurde sicht- und hörbar, dass die Mehrheit der entstehenden Kollapsbewegung hier deutlich anders oder zumindest differenzierter urteilt und eher für eine Komplementärstruktur zwischen Klimabewegung und Kollapsbewegung als für ein Gegeneinander-Ausspielen eintritt. Als Tadzio Müller schließlich meinte, nach 18 Jahren Klimaaktivismus diese Frage beurteilen zu können, rief ein älterer Teilnehmender sinngemäß dazwischen, dass er sich nach 40 Jahren Engagement, mit Verlaub, eine andere Einschätzung erlaube.
Bei einem Workshop der Teachers for Future am nächsten Tag fasste eine Referentin zusammen, was es neben allem Kollapsbewusstsein und auch mitten in Krisen und Katastrophen der nächsten Generation zu vermitteln gelte und was man als Grundstimmung des Camps überhaupt bezeichnen könnte: Leben ist schön und lohnt sich!
„Beidhändig“ agieren lernen
Unzweifelhaft war vermutlich allen Teilnehmenden, dass die Klimabewegung bei weitem nicht alle ihre Ziele erreicht hat und der derzeit global vielerorts wahrnehmbare rechte und fossile Rollback verheerend ist. Eine rund 3 Grad heißere Welt, auf die wir laut Expert:innen mit hoher Wahrscheinlichkeit zusteuern, wird eine katastrophale sein, mit potenziell kollapsartigen Konsequenzen für Biosphäre und menschliche Gesellschaften. Und trotzdem (und dafür muss man keine Klimawissenschaftlerin sein) wahrscheinlich weniger schlimm als eine um 5 Grad hochgekochte Erde.
In den meisten Gesprächen mit Campteilnehmenden war spürbar, dass beides gleichzeitig nötig ist und möglich sein muss: Kollapsszenarien zuzulassen und durchzuspielen, entsprechende Vorbereitungen zu treffen und schon jetzt politisches Handeln, Zivilgesellschaft und Kirche darauf strukturell vorzubereiten – und parallel weiter um jedes Zehntelgrad, jede Tierart, jeden Zentimeter demokratischen Grunds zu kämpfen. Die Zukunft erfordert also wohl eine Art „Beidhändigkeit“ (Ambidextrie), die es uns in den nächsten Jahrzehnten ermöglicht, gleichzeitig in verschiedene Richtungen zu wirken (Gefahrenabwehr und Prävention einerseits, Resilienz und Kollapskompetenz andererseits), und die auch mit Spannungen und Widersprüchen umzugehen versteht (Ambiguitätstoleranz).
In der kirchlichen Tradition gibt es durchaus Vorstellungen, Erfahrungen und Kompetenzen, die für solches beidhändiges und ambiguitätstolerantes Leben und Engagement hilfreich sein könnten. Exemplarisch und ohne Systematik seien genannt: die Gleichzeitigkeit des Status des Menschen als Sünder und Gerechter; die Erfahrung von Gott als verborgen und offenbar (deus absconditus und deus revelatus) sowie als richtender und liebender Gott, die Erfahrung des Reiches Gottes als „schon“ anbrechend und „noch nicht“ erfüllt; das sola gratia (allein aus Gnade) und die gleichzeitige Notwendigkeit der guten Werke; das Zusammenspiel von Evangeliumsverkündigung und diakonischem Handeln der Kirche; das oft geheimnisvolle Ineinandergreifen des Wirkens Gottes und des Wirkens der Menschen; das notwendige christliche Engagement sowohl für die „Welt“ als auch für das jenseitige Heil usw. Sind also im Raum von Kirche und Diakonie Kompetenzen und Denkmuster vorhanden, die als Ressourcen für die entstehende Kollapsbewegung hebbar wären?
Der Wert (landes-)kirchlicher Strukturen im Kollaps
Solidarische Kollapsvorbereitung bedeutet zunächst ganz äußerlich: Strukturen zu etablieren, die auch unter katastrophischen Bedingungen ein Mindestmaß an funktionierendem Miteinander gewährleisten können. Und tatsächlich gewinnt Katastrophenschutz, gerade auch vor dem Hintergrund wachsender militärischer und hybrider Bedrohungen, gesellschaftlich und politisch gegenwärtig an Bedeutung und Aufmerksamkeit. Auch auf dem Kollapscamp drehte sich viel um die Frage, wie solche kollapsresilienten Strukturen aussehen und unterstützt oder neu etabliert werden können.
So bekundeten einige der Teilnehmenden ihre Absicht, staatliche Strukturen stärken und sich als Einzelpersonen oder sogar als ganze Gruppen beim Technischen Hilfswerk (THW) engagieren zu wollen – und so dort bewusst klimaaktivistische, linke und queere Perspektiven einzutragen. Andere wiederum arbeiten systematisch an ergänzenden bewegungsförmigeren Strukturen, die agiler auf Krisen reagieren und z. B. besonders marginalisierte Gruppen im Blick haben können.
Bei den Campteilnehmenden nicht immer im Blick, aber für mich mit Händen zu greifen ist die Rolle, die Kirche in diesem Vielklang an Kriseninfrastrukturen zumindest theoretisch zukommen kann: als quasi staatsanaloge Institution, die jedoch nicht Staat ist, aber mit ihrem Filialsystem in fast allen Dörfern und Städten im Land vertreten ist; gleichzeitig als Nichtregierungsorganisation mit Vereins- und (zumindest zum Teil) Bewegungslogik, die in Krisen teils schneller vor Ort sein kann als zentral koordinierte staatliche Hilfen.
Kirche und Diakonie können gerade aufgrund dieses Hybridcharakters in Krisen- und Kollapsszenarien als Mittlerorganisation, Mittlerstruktur beziehungsweise Intermediär zwischen den großen staatlichen Strukturen und kleinen agilen Organisationsformen dienen. Schließlich bieten Kirche und Diakonie (noch) ein fast flächendeckendes System mit Personalressourcen (Haupt- und Ehrenamtliche), Fachkompetenzen (sozialdiakonische Expertise, seelsorglich geschultes Personal), Infrastruktur (u. a. Gebäude, Freiflächen und öffentliche Küchen – letztere potenziell wichtig für kleinteilige Versorgung von Menschen im Katastrophenfall!), zivilgesellschaftlicher und sozialräumlicher Vernetzung sowie – nicht zu unterschätzen – einer landes- und bundesweiten Koordinations- und Kommunikationsstruktur. So gehörten bei jeder Flutkatastrophe in den letzten Jahren kirchliche und diakonische Akteur:innen zu den ersten vor Ort, die Unterstützung, Gespräche, Seelsorge und Hilfsvermittlung zur Verfügung stellten. Diese Position „in der Mitte“ können Kirche und Diakonie in Kollapsen und akuten Krisen in den Dienst der Vermittlung zwischen staatlichen und bewegungsförmigen Hilfsangeboten stellen.
Dass der Beitrag von Kirche zur Kriseninfrastruktur schon heute teilweise vor Ort funktioniert, beweisen etwa mehrere Kirchen, die im österreichischen Graz seit einigen Jahren als „Leuchttürme der Hilfe“ dienen. In jeder der beteiligten Kirchen werden, koordiniert durch die Stadt Graz, Notstromaggregate aufgestellt, Ehrenamtliche geschult und im Notfall städtische Mitarbeitende mit Funkgeräten postiert, sodass Menschen in akuten Krisen an den Kirchen Lageinformationen, kleinere Unterstützungsleistungen, psycho-soziale Akuthilfe und seelsorgliche Unterstützung erhalten. Tatsächlich gibt es auch in Deutschland vergleichbare Planungen, auch Kirchen als „Katastrophenschutz-Leuchttürme“ zu etablieren (vgl. die Überlegungen seitens des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sowie das Projekt „Notläuten“ in Bremerhaven). Auf Bundesebene hat die Aktion #wärmewinter von EKD und Diakonie Deutschland im Krisenwinter 2022/23 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine in vielfältiger Weise gezeigt, dass Kirche und Diakonie in akuten Krisensituationen rasch vor Ort agieren, mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur:innen kooperieren und so kritische Infrastruktur bereitstellen können.
All das setzt in der Regel die gegenwärtigen kirchlichen und diakonischen Organisationsstrukturen voraus. Jedoch steckt gerade Kirche gegenwärtig in massiven Rückbauprozessen. Die damit einhergehenden Strukturdiskussionen kreisen in aller Regel um innerkirchliche Logiken (Was braucht Kirche, um ihre „Kernaufgaben“ zu erfüllen? etc.). Selten wird danach gefragt, welche Rolle (landes-)kirchliche Strukturen für die gesamte Zivilgesellschaft spielen (können). Aus kollapsbewusster Perspektive könnten die Strukturanpassungsdebatten aber vielleicht noch einmal ganz anders geführt werden. Denn wie angedeutet kann das landes- und bundesweite kirchliche Filialsystem eine nicht zu unterschätzende Funktion für eine krisenresiliente Gesellschaft erfüllen. Damit ergibt sich aus ganz anderer Richtung die Frage: Sollten – um des (Über-)Lebens im Kollaps willen – landeskirchliche Strukturen erhalten bleiben? Und, wenn ja, wie kann das auch mit einem Bruchteil des Geldes gelingen und was braucht es dafür?
Emo-Arbeit und Seelsorge
Abseits solcher praktischen Fragen nahm der emotionale Umgang mit dem Kollaps auf dem Camp großen Raum ein (vgl. dazu die ausführlicheren Beobachtungen und Ableitungen im Text von Gabriela Hund weiter unten). Etwa ein Drittel der Angebote drehte sich um „Emo-Arbeit“ und psychologische Skills zur Bearbeitung von Gefühlen im Zusammenhang mit Kollapsbewusstsein wie Trauer, Wut, Hilflosigkeit und Hoffnung. Wie können Menschen auch in Kollapssituationen resilient bleiben? Wie gelingt Trauerarbeit angesichts der Verluste an Zukunftsperspektiven, Menschenleben und ökologischer Vielfalt? Wie kann Raum für die Verarbeitung einer ganzen Vielfalt an starken Emotionen gegeben werden („Sit with the shit“), um von da aus auch wieder zu einem gemeinsamen Handeln zu kommen?
In diesem Zusammenhang wurden etwa die Tiefenökologie von Joanna Macy, die Ansätze des Netzwerks Tiefe Anpassung (nach dem Konzept „deep adaptation“ von Jem Bendell) oder Erfahrungen aus dem Bereich der Psychologists for Future stark rezipiert.
Auch hier eröffnet sich – zumindest angesichts der formalen Ausgangsbedingungen – ein breites potenzielles Handlungsfeld für Kirche und Diakonie. Immerhin ist Kirche fast überall im Land mit jedenfalls grundständig seelsorglich ausgebildetem haupt- und ehrenamtlichem Personal präsent (siehe oben); hinzu kommen die vielfältigen Angebote der Spezialseelsorge in kirchlichen, diakonischen und weltlichen Kontexten sowie der Telefon- und Online-Seelsorge.
Gleichzeitig wird kirchlich-diakonische Seelsorge nur dann in Kollapskontexten als hilfreich und handlungsfähig erlebbar werden, wenn sie die diesbezüglichen reichen Erfahrungen und Kompetenzen der Klima- und Kollapsbewegungen ernstnimmt und rezipiert. Diese Bewegungen haben in den letzten Jahren hochprofessionelle Expertise in der emotionalen Kollapsarbeit entwickelt und entwickeln sie weiter. Davon muss kirchlich-diakonische Seelsorge dringend lernen und profitieren, um nicht an den Bedarfen und Notwendigkeiten vorbeizuarbeiten, sondern tatsächlich kollapsrelevant agieren zu können. Daher braucht es eine Sensibilisierung von Seelsorgelehre und -praxis für Kollapsthemen, die Vermittlung von Kollapsbewusstsein und -kompetenz in der Seelsorgeaus- und -weiterbildung und eine damit zusammenhängende Weiterentwicklung des Seelsorgeverständnisses in Richtung einer multidimensionalen Seelsorge (siehe dazu die im Text von Gabriela Hund weiter unten formulierten Desiderate).
Wenn das gelingt, können Kirche und Diakonie aufgrund ihrer Strukturen und personellen Ressourcen zukünftig tatsächlich eine wichtige Funktion für die emotionale Resilienz der Bevölkerung angesichts von Katastrophen und Kollapsen zukommen. In diesem Zusammenhang sei auch auf die demnächst erscheinende Publikation von midi und VRK-Akademie „Seelsorge in der Klimakrise. Aufbrüche in Wissenschaft und Praxis“ verwiesen.
Rituale – Kompetenzen auf Augenhöhe austauschen
Gerade bei der emotionalen Arbeit zu Kollapsbewusstsein können (im engeren und weiteren Sinn) spirituelle oder jedenfalls rituelle Formen als hilfreich und unterstützend erlebt werden. Das wird bei den oben beispielhaft aufgeführten entsprechenden Ansätzen (Joanna Macy, Tiefe Anpassung, Psychologists for Future) deutlich, und das war auch bei verschiedenen Formaten auf dem Kollapscamp spürbar (vgl. dazu die ausführlicheren Beobachtungen und Ableitungen im Text von Gabriela Hund weiter unten).
Wie können wir unsere Achtsamkeit, unsere Verbindung mit der Natur und die Solidarität untereinander stärken? Wie können wir die widerstreitenden Gefühle, die aus einem Kollapsbewusstsein resultieren (siehe oben), zulassen, zum Ausdruck bringen, inszenieren und verarbeiten? Wie kann Hoffnung angesichts des Kollapses möglich werden? Rituale – ob religiös oder dezidiert weltlich geframt – liegen als Teil der Antwort auf diese Fragen nahe. Entsprechend wurde gleich die Eröffnung des Kollapscamps mit einer aufwändig inszenierten, zeitlich umfangreichen quasi liturgischen Eröffnung zelebriert: mit kreativ gestalteten Symbolfiguren, die metaphorisch für verschiedenste Emotionen rund um den Kollaps standen und mit ritualartig vorgetragenen Begleittexten eingeführt und willkommen geheißen wurden. Gerade das Experimentelle und vielleicht an manchen Stellen Unperfekte, dafür umso Ehrlichere und Authentischere dieses Rituals wurde von vielen Teilnehmenden als wohltuend erlebt.
Insbesondere angesichts möglicher Katastrophenszenarien besteht ein menschliches Bedürfnis nach Ritualen und liturgischen und spirituellen Formen, und zwar unabhängig von den jeweiligen Weltanschauungen. Die jüdisch-christliche Tradition bietet in dieser Hinsicht einen über Jahrtausende angesammelten Reichtum an Kompetenzen, Erfahrungen und Formen. Und wahrscheinlich nicht zufällig haben sich im Umfeld der Klimabewegung auch religiöse und dezidiert christliche Subbewegungen wie die Christians 4 Future und Formen wie das Klimapilgern oder die inzwischen weit verbreiteten Klimaandachten und -gebete entwickelt und kam etwa während der Besetzung von Lützerath der so genannten „Eibenkapelle“ eine besondere symbolische Bedeutung als Ort des Feierns, der Trauer und des Protestes zu. Gleichzeitig ist auch auf Seiten der Klima- und der Kollapsbewegung inzwischen ein großer Schatz an Erfahrungen und Skills vorhanden, von dem wiederum Kirche lernen und bereichert werden kann..
Für die Weiterarbeit könnten folgende Fragen leitend sein: Wie können christliche Ritualkompetenzen und liturgische Traditionen schon heute zur Auseinandersetzung mit Kollapsen beitragen? Wie können die entsprechenden Kompetenzen in den Klima- und Kollapsbewegungen wiederum christliche rituelle Traditionen bereichern, erweitern und vielleicht auch korrigieren? Wie kann christliche Ritualkompetenz auch in Kollapssituationen resilienzfördernd und hoffnungsstiftend für Menschen zur Geltung gebracht werden? Kann Kirche ihre Expertise hier auch dienend zur Verfügung stellen und sich zusammen mit anderen Traditionen in einen gemeinsamen Lernprozess begeben, um miteinander neue, weltanschauungsübergreifende Formate zu entwickeln? Und wie kann das alles tatsächlich auf Augenhöhe geschehen – wobei das dezidiert Christliche durchaus als formales und inhaltliches Angebot eingespielt werden kann, aber nicht dominieren oder Deutungen vorschreiben möchte, sondern Räume öffnen und Rahmen und Orientierung bieten kann?
Bitte Hoffnung, keine Apokalyptik!?
Womit wir endgültig bei zentralen inhaltlichen Fragen ankommen, bei denen Kirche und Theologie angesichts wachsender Kollapsrisiken gefordert sein könnten. Denn auch auf dem Kollapscamp war der Wunsch nach Hoffnung angesichts dystopischer Aussichten allgegenwärtig. Eine Aussage, die sinngemäß immer wieder auftauchte und auch in der gesamtgesellschaftlichen Debatte wahrnehmbar ist, lautet: Wir wollen keine Apokalyptik, sondern Hoffnung (wenn auch auf dem Kollapscamp dezidiert keine Hoffnung am Kollaps vorbei, sondern eine Hoffnung im Kollaps und darüber hinaus gesucht wurde).
So klar und verständlich ist, was dieser Wunsch meint, so deutlich gilt es doch aus biblisch-theologischer Perspektive ein solches Verständnis von Apokalyptik zu hinterfragen, und, vielleicht gerade angesichts möglicher Kollapse, provokant zu entgegnen: Mehr Apokalypse wagen!
Die biblische Apokalyptik ist nämlich keine Weltuntergangs-, sondern eine Hoffnungstradition (vgl. dazu den Beitrag von Gregor Taxacher „Apokalyptisch hoffen? Jenseits von Optimismus und ökologischem Ablasshandel“ im bereits erwähnten Band „Seelsorge in der Klimakrise“). Allerdings entsteht apokalyptische Hoffnung nicht aus einem Optimismus oder „positivem Denken“ (nach dem Motto „Es wird schon gut gehen“ oder „Es wird schon nicht so schlimm werden“), sondern aus der unverstellten Wahrnehmung der Realität. Apokalyptik schaut der Wahrheit ins Auge – inklusive Anerkennung der Existenz menschen- und lebensfeindlicher Mächte und möglicher kommender Zerstörungen und Kollapse der bestehenden Ordnungen (womöglich ein Grund, warum Apokalyptik in der gegenwärtigen Theologie und Glaubenspraxis in der Regel kaum eine Rolle spielt).
Apokalyptische Glaubensvorstellungen und Weltsichten in der Bibel nehmen all das mit allen Konsequenzen ernst – und wissen gleichzeitig von einem Handeln Gottes in all diesen Verwerfungen und Verheerungen. Dieses göttliche Handeln erweist sich dabei letzten Endes als stärker als die Weltreiche mit deren Zerstörungskraft. Es hat gerade die Opfer und Marginalisierten im Blick, befreit sie aus ihrer Machtlosigkeit, empowert sie und lässt sie hoffen – nicht an den Katastrophen vorbei, sondern durch die Katastrophen hindurch.
Überspitzt gesagt sind die in der Apokalyptik angekündigten Katastrophen und Kollapse in erster Linie für die Herrschenden bedrohlich; für die Opfer und Unterdrückten können sie die Wende zur Befreiung sein. Am Ende stehen dann nicht die zerstörerischen Mächte und Weltreiche, sondern die Herrschaft mit menschlichem Antlitz (Daniel 7), die Neuschöpfung und das Reich Gottes, welches mit der Auferstehung von Jesus Christus bereits seinen Anfang genommen hat und sich nicht entrückt im Himmel, sondern sehr irdisch auf der (wenn auch dann ganz neu geschaffenen) Welt ereignet (Offenbarung 21).
Apokalyptischer Glaube sehnt nicht die Katastrophe herbei. Aber er weiß, dass Katastrophen kommen können. Und dass Gott auch darin Gott bleibt. Dass die Auferstehungskraft von Jesus auch da wirkt. Dass Gott mit dieser Welt etwas vorhat. Dass Gerechtigkeit und Schalom auch dann möglich sind. Und dass Gott auch in der und durch die Katastrophe seinen Willen offenbar machen und zur Durchsetzung bringen kann.
Damit ist apokalyptisches Denken im biblischen Sinn möglicherweise geradezu prädestiniert, um angesichts von wachsendem Kollapsbewusstsein – und natürlich auch im Kollaps selbst – Menschen als Interpretations- und Bewältigungshilfe zu dienen. Biblisch fundierte christliche Apokalyptik kann Antworten auf die Frage bieten, die die Kollapsbewegung zentral umtreibt: Was, wenn es nicht gut geht?
Mit dem Unkalkulierbaren rechnen
Eine Aufgabe der aufwachsenden Kollapsbewegung ist es, uns Vögel Straußen die Köpfe aus den Erdlöchern zu ziehen und in unsere scheinbare Normalität hinein die Möglichkeit und Plausibilität des Zusammenbruchs ebensolcher hineinzurufen, nicht aus Untergangsverliebtheit, sondern gut wissenschaftlich begründet. Das tut angesichts der eingangs skizzierten Bedrohungsszenarien not.
Der Fokus dieser Bewegung liegt daher aus naheliegenden Gründen nicht darauf, Menschen aufzurütteln und zu sagen: Bei allen plausiblen Kollapsszenarien am Horizont – es kann auch unerwartet gut werden! Denn erst einmal braucht es genau das Gegenteil.
Und doch wäre es bei aller notwendiger Kollapsvorbereitung vielleicht wichtig, auch der Möglichkeit unerwarteter sozialer Prozesse zumindest gewärtig zu bleiben – eine Haltung, die aus biblischem apokalyptischem Denken resultieren kann und die Kirche behutsam in die Kollapsdebatte einspielen könnte.
Dabei geht es gar nicht zwingend um nur religiös interpretierbare Erfahrungen. Die jüngste Zeitgeschichte veranschaulicht, wie wenig bestimmte disruptive Entwicklungen vorhersagbar sind, die aber den Lauf der Geschichte oder jedenfalls des größeren politischen Handelns unerwartet zum Guten ändern können – vom Zusammenbruch des Kommunismus über einen Super-GAU in einem japanischen Kernkraftwerk, der eine konservative Bundeskanzlerin den gerade erst kurz zuvor gekippten Atomausstieg erneut beschließen lässt, bis hin zu einem schwedischen Mädchen mit Zöpfen und einem handgeschriebenen Schild, das innerhalb kürzester Zeit eine weltweite Klimabewegung auslöst.
Theologisch gesprochen: Gott kann unerwartet handeln und wirken – disruptiv wie bei der Befreiung der israelitischen Sklav:innen aus Ägypten oder bei der Auferstehung von Jesus von den Toten; oder leise, erst einmal unscheinbar, aber mit globalem Impact wie bei der Durchsetzung seines Reichs, seiner neuen Welt (vgl. Lukas 17,20f). Und er wartet auf Betende und Handelnde, die damit rechnen – nicht als Ausrede für Ignoranz oder Untätigkeit; sondern als Rückenwind und Horizont für das eigene Engagement.
Damit können wir nicht im engeren Sinn kalkulieren und schon gar nicht unser (Nicht-)Handeln davon abhängig machen. Aber wir sollten – insbesondere für unsere (Geistes-)Haltung – zumindest die Möglichkeit im Blick behalten.
So wie wir als Kirche gleichzeitig beides können (oder jedenfalls können sollten): nüchtern unsere Organisations-, Personal- und Immobilienstrukturen den realen (religions-)demografischen und damit zusammenhängenden finanziellen Gegebenheiten anpassen – und unterdessen (hoffentlich) fröhlich und erwartungsvoll für eine Erweckung und eine neue Lust an Jesus, Bibel und Glaubensgemeinschaft beten, so gilt es auch in Bezug auf die düsteren Kollapsaussichten, beides zu tun: verantwortungsbewusst die möglichen und zum Teil sehr wahrscheinlichen Szenarien adressieren und Strukturen entsprechend aufbauen und resilienter gestalten – und gleichzeitig für möglich halten, dass Systeme jederzeit auch zum Besseren kippen können und Gott völlig unerwartet – und oft auch unverdient – das Schlimmste abwendet und nicht prognostizierbare Aufbrüche initiiert. (Überflüssig zu bemerken, dass damit nicht die eine rettende technische Deus-ex-Machina-Innovation gemeint ist, mit der die Lobbyist:innen und Fans einer radikalen Marktlogik ohne Evidenz in naher Zukunft rechnen und die Notwendigkeit von Selbstbeschränkung und echter Transformation konsequent bekämpfen.)
Kirche und Kollaps – wie geht es weiter?
2026 widmen sich die Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen, die Melanchthon-Akademie Köln, die evangelische Zukunftswerkstatt midi und das Netzwerk Tiefe Anpassung in Kooperation mit der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft FEST der Rolle von Kirche und Diakonie in multiplen Kollapsen.
Als Auftakt findet am 5.2.2026 in Köln ein Fachtag „Über Leben in Kollapsen. Kirche und Diakonie als zivilgesellschaftliche Akteurinnen angesichts von Krieg, Faschismus und Klima-Endgame“ statt.
Im weiteren Verlauf des kommenden Jahres sind außerdem eine zweitägige Barcamp-Veranstaltung in Berlin sowie eine Bearbeitung des Themas in verschiedenen Podcasts geplant. Die oben skizzierten Fragen, Themen und Aufgaben für Kirche und Diakonie werden bei all dem vermutlich eine Rolle spielen.
Walter Lechner wirkte von 2006 bis 2021 als Gemeindepfarrer auf dem Land und in der Großstadt in Sachsen. Seit 2022 ist er Referent für Sozialraumorientierung in Diakonie und Kirche bei der Evangelischen Arbeitsstelle midi.
[Nach diesem allgemeinen Überblick über mögliche Aufgaben von Kirche und Diakonie in Kollapsen beschäftigt sich der folgende Text von Gabriela Hund spezifisch mit Fragen von emotionaler Arbeit und Seelsorge in Kollapszusammenhängen.]
Emotionale Arbeit und emotionales Gehalten-Sein beim Kollapscamp 2025
Reflexionen einer christlichen Seelsorgerin
Das Kollapscamp 2025 stand im Zeichen schwerer Emotionen. Drei inhaltliche Stränge prägten das Programm: Wissen, Praxis und Emotionales. Dieser Text reflektiert die emotionale Arbeit, so, wie sie die Autorin erlebt hat.
Schwere Emotionen einladen und gemeinsam halten – die Eröffnung
Im Eröffnungsritual wurden schwere Gefühle eingeladen und durch Skulpturen versinnbildlicht: die Ungewissheit, die Trauer, die Angst, die Wut und die Scham. Damit war ein wichtiger Teil des Programms gesetzt: sich damit auseinander zu setzen, was der Klimakollaps ganz persönlich bedeutet, die dazugehörigen Emotionen nah herankommen zu lassen und nicht zu verdrängen. Da viele Klimaaktivisti auf dem Camp waren, gab es auch Trauer und Zorn über vergebliches Engagement und erlittene Traumata zu teilen, v. a. aber die Trauer über all das, was wir mit dem Klimakollaps verlieren werden und schon verloren haben. Ein vorsichtiges Gemeinschaftsritual – die Arme ausbreiten, aber sich nicht berühren – bot einen ersten Versuch, den Raum für diese schweren Gefühle zu schaffen und zu halten.
Räume für emotionale Arbeit – Der Care-Space
Eine wunderschöne Jurte wurde als Care-Space eingerichtet. Till Leinen, der Verantwortliche aus dem Leitungsteam formulierte den Auftrag des Care-Spaces so:
„Wenn 900 Menschen aufeinandertreffen, um sich mit Kollaps auseinanderzusetzen, werden mit Sicherheit auch viele emotionale Prozesse angestoßen. Das kann in dem Trubel des Camps auch schnell herausfordernd werden. Die Intention des Care-Spaces ist es, einen Ort zu schaffen, der Menschen Regulierung, Sicherheit und Unterstützung in ihrem eigenen Prozess im Verlaufe des Camps bietet.“
Und weiter:
„Mit der Jurte wird es einen Raum geben, der etwas Abgeschiedenheit und Entspannung bietet (gemütliche Sitz-/Liegemöglichkeiten, ruhige Musik, Räucherstäbchen etc.). In diesem Space soll nicht gegessen, konsumiert oder einfach geplaudert werden. Menschen können sich gerne dort zum Runterkommen aufhalten und es ist tagsüber immer eine Person von uns dort, für Gespräche und Unterstützung bei Bedarf. Wir vertrauen auf die Kapazität von Menschen, durch ihre inneren Prozesse zu gehen, und auf die Wichtigkeit dieser Prozesse. Wir müssen nichts lösen, verändern oder die Verantwortung für Personen übernehmen. Unser Angebot ist Einladung, falls Bedarf besteht. Wir sind vor Ort für ein offenes Ohr und um den Menschen Sicherheit zu geben, dass alles, was präsent ist, da sein darf. In unseren Schichten sorgen wir dafür, dass die Intention des Spaces geschützt wird (…), und bieten den Menschen lediglich Zuhören / ein Gespräch zum Bewusstwerden ihrer inneren Prozesse / Co-Regulierung durch Atmen, Berührungen etc. an, wenn sie möchten.“
Ich war selbst Teil des Care-Teams und durfte eine vierstündige Schicht in der Jurte übernehmen. Es war eine besondere Zeit an einem besonderen Ort. Benötigt habe ich weniger meine Skills aus der Seelsorgeausbildung als vielmehr die Erfahrungen aus meiner Achtsamkeitspraxis, aus meiner geistlichen Begleitung und aus meinem eigenen Prozess der Kollaps-Bewusstwerdung. Deutlich wurde mir auch, dass viele Menschen geübt waren, durch intensive emotionale Prozesse zu gehen und sich dabei selbst zu regulieren. Wichtig war jemand, der den Raum hält und schützt.
Eine intensive Erfahrung machte ich auch, als ich gebeten wurde, einen Workshop in emotionaler Arbeit als Mitglied des Care-Teams zu begleiten. Auch hier ging es darum, da zu sein, Sicherheit zu geben, dass auch intensive emotionale Prozesse sein dürfen (nicht gepusht werden, aber ihren Raum haben), und, wenn benötigt, für Gespräche zu Verfügung zu stehen.
Workshops für emotionale Arbeit
Das Camp bot eine große Vielfalt an Workshops für emotionale Arbeit. Es gab ausgesprochene Ritualräume zur Verarbeitung schwerer Gefühle. Es gab einige Workshops, die in unterschiedlicher Weise dazu einluden, Emotionen zu spüren und zu teilen, und es gab viele Workshops für Begleitende von emotionaler Arbeit.
Ritualräume
An zwei Ritualräumen konnte ich teilnehmen.
Der englischsprachige Workshop „Grief and gratitude: a ritual space for exploration and sharing“ der Psychotherapeutin Claritta Martin fußte auf der Arbeit von Joanna Macy¹, Nathalie Goldberg und Francis Weller. In einer Schreibübung, die einer Zen-Meditation nahekam, wurden Schmerz und Dankbarkeit benannt. In einer gelenkten Atemmeditation in der Tradition der buddhistischen Tonglen-Meditation wurden Leid und Schmerz, die wir empfinden und von unseren Mitwesen empfangen, „durchatmet“ – und damit eine Möglichkeit praktiziert, den Schmerz zu halten, ohne daran verrückt zu werden oder ausweichen zu müssen.
Der Workshop „Den Schmerz um die Welt teilen“ der Pfarrerin Lioba Dietz gemeinsam mit der Klimajournalistin Theresa Leisgang war ebenfalls ein Ritualspace, der auf der Arbeit von Joanna Macy fußte. Die Teilnehmenden benannten ihren konkreten Schmerz, traten damit in die Mitte und legten als Symbol einen Stein in eine Wasserschale. Ein einfaches Ritual, eine unglaubliche emotionale Dichte.
Was ich auch gerne miterlebt hätte: das Rave-Ritual „Facing Collapse“. Aus der Ausschreibung: „Zum Beat der Musik lassen wir Emotionen wie Wellen durch unseren Körper fließen und bewegen, was im Alltag oft steckenbleibt.“
Emotionen spüren und teilen
Etliche Workshops luden dazu ein, Emotionen zu spüren und zu teilen, etwa die Workshops „Breathwork“, „Zweifel am Aktivismus – aktivistisch bleiben in schwierigen Zeiten“ und „Healthy anger Workshop“.
Emotionale Arbeit begleiten lernen und strategisch einsetzen:
Zahlreiche Workshops trainierten Fähigkeiten, um emotionale Arbeit zu begleiten, z.B.:
- Moderationslabor: Wie wir in Krisen kollektiv die Ruhe bewahren
- „Warum Gruppen scheitern – Resilienzstrategien für selbstorganisierte Projekte“
- Dialog mit Andersdenkenden (Gewaltfreie Kommunikation)
- Einführung in Radikale Therapie
- 30 normal practices to help us stay grounded in times of collapse
- „Gemeinschaftlich resiliente Grundlagen für das Leben im Kollaps schaffen“
- „Introduction to nervous system regulation“
„Tiefe Anpassung“ als mehrtägiger Workshop
Einige Workshops fanden über mehrere Tage statt, so auch der Workshop „Tiefe Anpassung“ an drei Vormittagen. Aus der Ausschreibung: „Tiefe Anpassung ist ein innerer und kollektiver Prozess des Öffnens für die Möglichkeit eines umfassenden gesellschaftlichen Zusammenbruchs infolge der Klimakrise.“
Zitate von der Website www.tiefe-anpassung.de (entnommen 11.09.2025): „Was finden wir auf der anderen Seite, wenn wir durch die Verzweiflung und die Hilflosigkeit angesichts der globalen Krise der Systeme gegangen sind? Was passiert, wenn wir uns dem Schmerz stellen um das, was schon verloren ist und was wir wahrscheinlich noch verlieren werden? … Aber macht der Gedanke, dass es für eine Rettung vor dem Kollaps zu spät sein könnte, nicht depressiv, verängstigt und hoffnungslos? Das ist eine verständliche Sorge. Die alten Weisheitstraditionen, aber auch die moderne Trauer- und Sterbeforschung sagen etwas anderes: Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung haben einen bedeutenden Platz in der Welt. Sie sind ein notwendiger Schritt in einem Verarbeitungsprozess, der – wenn er gelingt – zu einer neuen Art von Selbst- und Weltwahrnehmung führt.
Wir handeln dann von einem anderen inneren Ort aus: nicht mehr der ‚Kampf gegen‘ etwas bestimmt unsere Aktionen, sondern die Liebe, die daraus erwächst, dass wir uns dem Schmerz um die Welt gestellt haben.
Die unangenehme Wahrheit und die damit verbundenen Gefühle bewusst anzuschauen führt also in der Regel nicht wie angenommen in Depression und Apathie, sondern ins Handeln aus Liebe. Von da aus können neue Wege entstehen.“
Der Workshop war auf 25 Personen begrenzt und ausgebucht; weitere Interessent*innen mussten abgewiesen werden.
Kollapsbewegung und christliche Seelsorge – Können christliche Seelsorgende im Klimakollaps unterstützen?
Mich hat die emotionale Arbeit auf dem Camp besonders interessiert, weil ich wissen wollte, ob wir hier als christliche Seelsorgende unterstützen können. Und tatsächlich hat wie erwähnt eine Pfarrerin einen Workshop angeboten und wirhaben mit mehreren christlichen Seelsorgenden im Care-Space unterstützt.
Ich habe einerseits den Eindruck gewonnen, dass christliche Seelsorgende und auch christliche Aktivisti gerne gesehen sind. Andererseits wurden aber bewusst auch Ritualwerkstätten angeboten, die a-religiöse Rituale entwickeln wollten. Und es ist bereits eine unglaubliche Kompetenz in der Bewegung vorhanden, was die Begleitung emotionaler Prozesse angeht. Mein erster Eindruck ist: Unterstützung wird gerne akzeptiert, aber sie erfordert auch eine hohe Kompetenz.
Was können christliche Seelsorgende von der emotionalen Arbeit in der Kollapsbewegung lernen?
Das entschiedene Zulassen von negativen Gefühlen ist eine besondere Qualität der beginnenden Kollapsbewegung wie auch der verzweifelten Klimabewegung der letzten Jahre. Das ist ungewohnt für viele christliche Seelsorgende und wäre etwas, was sie lernen könnten. Mehr noch als das Zulassen ist das Halten der schweren Gefühle eine Kunst, die gelernt werden will. Trauerseelsorgende oder Notfallseelsorgende sollten das können; andere Seelsorgende müssen es vielleicht neu lernen, zumindest in dieser Radikalität.
Ungewohnt ist auch die Kollapsakzeptanz. Als Christ*innen haben wir manchmal einen „Hoffnungsreflex“, der über die negative Wirklichkeit hinweggeht. Die Ehrlichkeit, uns einzugestehen, dass der Klimakollaps und der daraus folgende gesellschaftliche Kollaps mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten werden, ist etwas, was wir von der Kollapsbewegung lernen können.
Ebenso sind auch die verschiedenen regulierenden Tools etwas, was wir lernen können. Und die Arbeit von Joanna Macy wird bereits ab und an im kirchlichen Kontext adaptiert – hier wäre sicherlich mehr möglich und sinnvoll.
Was müssen christliche Seelsorgende (ver-)lernen, bevor sie im Klimakollaps und in der Kollapsbewegung unterstützen können?
Verlernen müssen christliche Seelsorgende sicherlich die reflexhafte Hoffnung, in Kollapskreisen auch „hopium“ genannt. Ja, es gibt auch in der Kollapsbewegung eine Hoffnung, aber die entsteht nach dem Waten im Schlamm; sie ist eine Hoffnung auf Zusammensetzen der Scherben wie in der japanischen Kintsugi-Kunst.
Verlernen müssen wir auch die Selbstsicherheit, dass wir schon genau wissen, was andere brauchen, und dass wir selbstverständlich über die benötigten Fähigkeiten verfügen.
Lernen müssen wir erst einmal, selbst die Möglichkeit des Kollapses zu akzeptieren und die damit verbundenen schweren Gefühle tatsächlich zu erleben und zu halten. Wir brauchen Erfahrung in der Begleitung tiefer innerer Prozesse. Wir brauchen Achtsamkeit und Gelassenheit.
Wir brauchen auch eine neue Form der Ritualkompetenz, besser der Ritual-Erschaffungs-Kompetenz. Die Begleitung der Kollapsbewegung wird nicht mit traditionellen Ritualen möglich sein, aber mit erneuerten, authentischen Ritualen durchaus.
Wir brauchen eine hohe interkulturelle und interreligiöse Kompetenz: In der Kollapsbewegung kommen verschiedene sehr ausgeprägte Kulturen und Milieus zusammen. Für die vorhandenen Rituale werden Anleihen bei verschiedenen Religionen gemacht, insbesondere im Buddhismus und bei indigenen Kulturen. Vieles lässt sich durchaus mit dem Christentum verbinden; das braucht aber Sensibilität und ein Zuhause-Sein in verschiedenen (religiösen) Sprachsystemen.
Wir brauchen Demut im Miteinander.
Anregungen für die Seelsorgeausbildung sowie Seelsorgefort- und -weiterbildung in Zeiten des Klimakollaps
Zuerst brauchen wir wohl Werkstätten, die aus den Fragestellungen neue Weiterbildungen entwickeln:
- Was bedeutet der hochwahrscheinliche Klimakollaps und der daraus folgende gesellschaftliche Kollaps für uns persönlich und für unsere Um- und Mitwelt? Wie können wir selber unsere Gefühle halten?
- Welche Haltung und welches Handwerkszeug brauchen wir? Wo können wir an bisherigen Seelsorgeansätzen und -ausbildungen anknüpfen? Wo brauchen wir Neues?
- Methodisch anschlussfähig wäre z. B. die „Tiefe Anpassung“, die ohnehin mit einer Vielfalt an Methoden arbeitet. Auch die Arbeit von Joanna Macy wäre höchst anschlussfähig.
- Vielleicht brauchen wir außerdem aber auch Basis-Handwerkszeug im Umgang mit Traumata und Hyperarousal². Wir werden nicht zu Therapeut*innen, aber ein Basis-Handwerkszeug wird bei zunehmenden Katastrophen-Szenarien für alle unterstützenden Personen wichtig werden.
- Darüber hinaus bietet die Kollapsbewegung viele Anschlüsse für die Gemeinwesendiakonie; das wäre ein eigenes Thema, würde aber zu einer diakonischen Seelsorge im Kollaps dazugehören.
Gabriela Hund (M.A.) ist Gemeindepädagogin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie ist als Seelsorgerin in einer Evangelischen Landeskirche tätig. Privat engagiert sie sich in der Klima-Kollapsbewegung, insbesondere in der „Tiefen Anpassung“, sowie für den Dialog zwischen Klima-Kollapsbewegung und Evangelischer Kirche.
¹Joanna Macy, Chris Johnstone: Active Hope: Der ökologischen Krise mit kreativer Kraft und Resilienz entgegentreten, Junfermann Verlag 2024, 2., überarbeitete Auflage
Joanna Macy, Molly Young Brown: Die Reise ins lebendige Leben: Strategien zum Aufbau einer zukunftsfähigen Welt – Ein Handbuch, Junfermann Verlag 2011, 3., durchgesehene Auflage
²Hyperarousal: „Zustand eines anhaltend erhöhten Aktivierungsniveaus (Arousal) des ZNS. Hyperarousal äußert sich in vermehrter Anspannung mit Unruhe, Ein- und Durchschlafstörungen, Reizbarkeit, Aggression, Konzentrationsstörungen, übermäßiger Wachsamkeit, gesteigerter Schreckhaftigkeit und psychosomatischen Symptomen. Es kommt z. B. vor bei starkem Stress, chronischer Insomnie, Angststörungen, Depression, posttraumatischer Belastungsstörung und Burnout-Syndrom.“ (entnommen aus: https://www.pschyrembel.de/Hyperarousal/K0QU2/doc/, 16.09.2025)