Erfahrungen von Nutzlosigkeit und Kreativität in Krisenzeiten

Leerstellen in der kirchlichen Praxis während der Covid-19-Pandemie

Wahrnehmbare Erschütterungen im kirchlichen Leben

Die EKD und midi beleuchten seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie das Thema „Agile Kirche und Diakonie: innovativ durch die Krise“ aus unterschiedlichen Perspektiven.

Eine der vielfach diskutierten ambivalenten Erfahrungen ist, dass einerseits der Kirche öffentlich vorgeworfen wurde, sie wäre „abgetaucht“, hätte geschwiegen, andererseits allerdings auch vielerorts innovative Aufbrüche zu erkennen sind.

Zugleich stellen wir fest, dass bspw. der Religionsunterricht in Zeiten der Schulschließungen während des zweiten Lockdowns nur bedingt angeboten werden konnte oder aber, dass Abbrüche beim Kindergottesdienst und in der Kirchenmusik zu erwarten sind. Auch das Trauern unter eingeschränkten Bedingungen wirft immer wieder neue Fragen auf.

Diese Ambivalenzen anzusprechen und kollegial zu besprechen, war Ziel des Erfahrungsaustausches, zu dem midi im März 2021 eingeladen hatte.

Prof. Dr. Christian Albrecht, Praktischer Theologe von der Ludwig-Maximilian-Universität München, zeigte den Teilnehmenden eingangs auf, wie die Covid-19-Pandemie wesentliche Elemente des christlichen Lebens erschüttert hat: die tradierten Ideen, eingespielten Praktiken und sichtbaren Orte.

Tradierte Ideen – Plausibilisierung des „Trotzdem“

Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist: Welche tröstenden, orientierenden, stabilisierenden Ideen setzt das Christentum den Verunsicherungen durch die Pandemie entgegen? Damit einhergeht die Klärung der Frage nach dem christlichen Gottes-, Menschen- und Weltbild, das durch gedankliche Plausibilität überzeugt und dadurch den Menschen stärkt. Kurzum: wie lässt sich das Evangelium unter den gegenwärtigen Bedingungen ambivalenzsensibel artikulieren?

Hierzu schlägt der Münchner Theologe vor, dem Wort „Trotzdem“ Aufmerksamkeit zu schenken. Christsein heißt, trotz dem ersten Anschein hinter die Dinge zu schauen und mehr zu sehen, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Kirchen haben demnach die Aufgabe, dieses „Trotzdem“ im Horizont der gegenwärtigen Pandemie plausibel zu konkretisieren.

Eingespielte Praktiken – verkehrte Welten

Das Christentum ist auch eine Praktik, in der Menschen sich ihres Glaubens versichern, indem sie zusammen sind. Allen voran geschieht dies im Gottesdienst, der durch den Wegfall des Gemeindegesangs oder des Abendmahls, also allem Partizipativen, einer Einwegkommunikation gleicht.

Darüber hinaus entfallen Praktiken an den Rändern des Gottesdienstes, wie der Gang zur Kirche, die Begrüßung, das Kirchencafé u.v.m. Auch geraten Praktiken des sozialen Hilfehandelns in die Defensive. Physical Distancing gilt in der Pandemie als das wahrhaft Solidarische, Geschwisterliche – als christliche Praxis. Zuhause-Bleiben und Alleinlassen avancieren, zugespitzt formuliert, zu neuen Praktiken der Nächstenliebe.

Sichtbare Orte – außerhalb des Gewohnten

Auch die Orte, an denen das Christentum lebt und anschaulich wird, sind durch die Pandemie einem Wandel unterworfen. Kirchengebäude, bisher Orte der Geborgenheit, Zuflucht, Einkehr, der physischen Nähe, waren zeitweise ganz geschlossen oder dürfen nur unter erschwerten Bedingungen betreten werden. An Weihnachten wurde sichtbar, dass Kirchengebäude nur bedingt als Orte der Identifikation des Christlichen taugten.

Kirche ging hinaus und zu den Orten des Christentums werden Sportplätze, Parks oder Traktorgespanne.

Eine Einwanderung der Kirche in die Welt? Wenn überhaupt im Kleinen, da Großveranstaltungen wieder abgesagt werden mussten. Zugleich aber florieren Einrichtungen kirchlicher und diakonischer Beratung, Auffangstationen für Obdachlose, etablieren sich digitale Orte christlicher Gemeinschaft im Netz.

Vor diesem Hintergrund standen im Zentrum des kollegialen Austausches folgende Themen und Fragestellungen:

  • Die Kirche und das „nutzlose Heil“ in der Pandemie – Theologische Perspektiven auf die Funktion von Kirche in Krisenzeiten
  • Wie durch die Krise kommen? – Von guten Erfahrungen und banger Zuversicht
  • Klagen und Trauern während der Pandemie

Die Kirche und das „nutzlose Heil“ in der Pandemie

Theologische Perspektiven auf die Funktion von Kirche in Krisenzeiten

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ (2 Timotheus 1,7). Diese Haltung können Kirche und Theologie in die gegenwärtige Diskussionskultur eintragen – wider den Geist der permanenten Empörung, Erregung und gegenseitiger Schuldzuweisungen. Wider die Panik und Panikmacherei leben aus dem Geist der Kraft.

Dabei bleibt sie Stimme der Schwachen und macht die Nöte derer sichtbar, deren eigene Stimme im Geschrei der Rechthaber überhört wird.

Kirche kann dazu beitragen, dass Menschen bei Trost bleiben.

Kirche kann dazu beitragen, dass Menschen bei Trost bleiben und helfen zu unterscheiden zwischen einem guten Trost und Vertröstung. Sie kann dazu beitragen, dass an Politik realistische Erwartungen und keine Hoffnungen auf Heil gerichtet werden.

Leben jetzt und heute …

Dieses Leben, auch in der Begrenzung und Bedrohung durch ein kleines Virus, hat jetzt seine Güte. Diese Haltung steht wider die Angstmacherei und apokalyptische Rede, wider die Verschwörungstheorien und wider die Schuldzuweisungen. Kirche ist mehr als ein Resilienz-Backofen.

Damit wird nichts anderes erwartet, als Theologie und Kirche auch sonst leisten. Ob es eine Theologie der Pandemie geben kann, wird sich zeigen. Ob die Theologie jetzt anderes zu sagen hat, steht noch aus. Offensichtlich ist aber gerade die Zeit einer Bewährungsprobe. Wahrscheinlich müssen wir zuerst noch viel mehr wahrnehmen und hören und verstehen, deuten kommt erst danach.

Im Geist der Hoffnung …

Vielleicht haben Kirchen und Theologie bislang zu wenig deutlich gemacht, dass es mehr zu sagen gibt als das, was durch Politik und Gesundheitsämter verkündet wird. Nämlich plausibel zu machen, was es bedeutet, aus dem Geist der Hoffnung zu leben. Damit kommen andere Orte als lediglich der Kirchraum mit ins Spiel, Orte, an denen Menschen tatsächlich sind – z.B. im Kindergarten, auf Spielplätzen oder Spazierwegen.

Dabei kommt es darauf an, Hoffnungsbotschaft einfach und elementar zu formulieren und sichtbar zu machen und „Elementarteilchen von Hoffnung“ ganz konkret gegen die Furcht zu setzen.1

Es geht um das Leben jetzt – nicht irgendwann: es geht um das Sichtbarmachen des Lichtes im Tunnel, nicht erst am Ende des Tunnels. Wo sind jetzt Ressourcen? Wo ist jetzt Lebensfreude – dennoch und trotzdem. Dazu kann Kirche beitragen.

Über den Tellerrand hinaus …

Kirchen können erkennen lassen, dass der Blick über den eigenen Tellerrand notwendig ist – über den Rand der eigenen Kirchengemeinde/Landeskirche hinaus in die weltweite Kirche.2

Die Pandemie bringt Veränderungen: nicht nur für den Protestantismus und auch nicht nur in Deutschland.

In dieser Zeit der Empörung kann Kirche zeigen, was es bedeutet, aus dem Geist der Liebe zu leben.

Der Umgang mit dem Tod, der Begrenztheit des Lebens sind ureigenste christliche Themen. Nicht die Politik rettet vom Tod. In dieser Zeit der Erregung und Empörung, in der immer der andere zu versagen scheint, auf jeden Fall schuld ist, kann Kirche zeigen, was es bedeutet aus dem Geist der Liebe zu leben. Eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit und Vergebung kann gelernt und eingeübt werden. Sündenbockmechanismen können aufgedeckt werden. Individuelle und gesellschaftliche Seelsorge sind dann die Aufgabe.

Da sein … mit und für andere …

Die Erfahrungen der Pandemie zeigen, wie wichtig Präsenz ist. Und wie wichtig die leiblich-physische-soziale Praxis ist. Das gemeinsame Singen z.B. in den Gottesdiensten fehlt. Die Digitalisierung ermöglicht andere Beteiligungsformen. Sie kann aber nicht den physischen Kontakt ersetzen.

Ob es nach Corona wieder so wird, wie es früher war? Vermutlich nicht. Darin liegen auch Chancen. Diese Chancen werden leichter wahrgenommen, wo der Geist der Liebe und der Besonnenheit leitet.

Wie durch die Krise kommen?

Von guten Erfahrungen und banger Zuversicht

Kooperationen in der Zielgruppenarbeit

Religionsunterricht in der Schule oder aber Gottesdienstangebote, insbesondere an Ostern und Weihnachten, wären ohne Kooperationen in der Pandemie wohl nicht möglich gewesen. Im Religionsunterricht hat es eine Neubelebung des überkonfessionellen Angebots gegeben. Bei Gottesdiensten mussten nicht alle Alles anbieten. Kooperation wird vielerorts als Entlastung und Konzentration auf das Wesentliche erlebt.

Neue Querschnittsthemen

Themen wie Solidarität, Gerechtigkeit, Unverfügbarkeit des Lebens, oder Kirche als Sprachrohr und Zufluchtsort für die „Vergessenen in der Pandemie“ – etwa Künstler, Jugendliche, Vereinsamte – sind Blitzlichter für eine neu belebte und erlebte Gesellschaftsrelevanz von Kirche: Kirche als Gerechtigkeitsbarometer.

Im Lichte des Digitalisierungsschubs, den Kirche während der Pandemie notgedrungen erlebt hat, stellt sich für viele vor Ort die Frage nach der Wertigkeit der unterschiedlichen Angebote neu. Weniger die Konkurrenz der Angebote wird gesehen, vielmehr deren ergänzenden Charakter oder aber auch deren Alleinstellungsmerkmale. Es zeichnen sich hier erste ermutigende Selbstvergewisserungstendenzen ab, die das Potential haben, bisher unversöhnlich erscheinende Diskursgräben zu überbrücken.

Schließlich sind vielerorts Ermüdungserscheinungen im kirchlichen Leben und bei allen Akteuren feststellbar. Dies – gerade auch mit Blick auf die Post-Pandemie-Zeit – als Einladung und Ermutigung zu sehen, dem Lassen mehr Raum zu schenken, wird als zentrale kirchenleitende Herausforderung für alle Ebenen der Kirche betrachtet.

Neue Erfahrungen

Die Ökumene vor Ort lebt. Vielfach wurden gute Erfahrungen im ökumenischen Miteinander in der Pandemie gemacht. Dadurch wurde die Sichtbarkeit der Christen im Sozialraum für Viele erst erkennbar, insbesondere für passiv-Verbundene.

Dienstgemeinschaft, viele Jahrzehnte ein bedeutungsschwangerer Begriff ohne Unterbau, wurde in der Praxis gelebt und als wertvoll erachtet. Der kollegiale Austausch, das gemeinsame Gebet und Besinnen und das gemeinsame Tragen der Pandemie-Lasten hat diesem Begriff Leben eingehaucht.

Das gemeinsame Tragen der Pandemie-Lasten hat dem Begriff Dienstgemeinschaft Leben eingehaucht.

Erstaunlich die zahlreichen guten Erfahrungen mit raschen Lernkurven, was die technischen und digitalen Tools betrifft, die vor der Pandemie nur wenigen Akteuren im kirchlichen Leben bekannt waren: sei es Zoom, YouTube, Padlet u.v.m. Aber auch die rasche Anpassung der sonst langatmig wirkenden liturgischen Formate an die Logiken des Digitalen und die Bedürfnislage der Zuschauenden hat positiv überrascht: das neue Normal ist das Kurzformat.

Bange Zuversicht

Vieles ist während der Pandemie ins Wanken geraten. Landeskirchliche und parochiale Grenzen sind fluider geworden. Eine Rückkehr zur klassischen Gemeindearbeit ist zwar wünschenswert, aber wohl nicht realistisch. Zu viele Abbrüche sind feststellbar. Zu lange dauerte das notwendige Sabbatical für manche Gruppen und Kreisen, die bisher das Rückgrat kirchlichen Lebens vor Ort waren.

Und doch überwiegt die Zuversicht, manches wiederbeleben zu können, neu entstandene Netzwerke anders zu verstetigen. Erfreulich, dass durch die Digitalisierung für viele Ehrenamtliche ein freiwilliges Engagement ob der kurzen digitalen Wege eher möglich scheint als vor der Pandemie.

Klagen und Trauern während der Pandemie

Vor allem aber Hoffen

Neue Formen der Trauerarbeit

Die Corona-Pandemie hat die kirchliche Trauerarbeit – zumindest zwischenzeitlich stark – verändert. Als größtes Problem wird das „Alleingelassensein mit der Trauer“ beschrieben, da die Kontaktregeln das Herstellen von Gemeinschaft deutlich einschränken.

Der verantwortungsvolle Umgang mit den Kontaktbeschränkungen hat neue Formen der Trauerverarbeitung und Gemeinschaftsherstellung entstehen bzw. alte Formen wiederauferstehen lassen.

  • So wurden bspw. viele der Trauergottesdienste digital aufgenommen oder sogar live gestreamt, um An- und Zugehörige, die bei den Trauerfeiern selbst nicht anwesend sein durften, in dieser Form zu beteiligen.
  • In manchen Dörfern wurde der Sarg (wie früher üblich) auf dem Weg zum Friedhof langsam durch das Dorf gefahren, und die Menschen hatten die Möglichkeit, regelkonform vor ihre Häuser zu treten und so Abschied zu nehmen.
  • In einzelnen Fällen wurde die Hausaufbahrung wieder praktiziert. Das bot die Möglichkeit, dass Einzelne regelkonform das Haus betreten durften und am Sarg Abschied nehmen konnten. Diese Form könnte man weiterentwickeln, indem die Gemeinden ihre Kirchgebäude für Aufbahrungen anbieten.

Entprivatisieren

Gleichzeitig gilt es dem Trend ins Private entgegenzuwirken, da dieser in Einsamkeit und Depressionen führt. Das immer mehr zunehmende Bedürfnis nach Gemeinschaft ist wahrzunehmen und Lösungen zu suchen, wie dem entsprochen werden kann. Gerade seitens der Kirchen ist hier in den vergangenen Monaten viel geleistet worden.

Die Unmöglichkeit der Regel- und Gruppenangebote hat vielerorts dazu geführt, dass Pfarrer*innen und andere haupt- und nebenamtlich Engagierte in den Gemeinden den Weg zu den Menschen gesucht und diese individuell besucht, angerufen usw. haben. Durch ihre Person haben sie damit gleichzeitig eine unsichtbare Beziehung zur Gesamtgemeinde hergestellt. Ganz im Gegensatz zu dem Vorwurf, die Kirchen seien in der Pandemie nicht präsent gewesen, lag ihr Fokus genau auf diesen Kontaktaufnahmen und persönlicher Nähe. Die Präsenz in dieser Form muss stärker kommuniziert werden, damit sie auch öffentlich wahrgenommen wird.

Gemeinschaft herstellen kann auch digital sein, wie es etwa Aktionen wie „Mehr als nur eine Zahl“ und viele andere tun. Gemeinschaftsgefühle müssen pandemiebedingt in physischer Distanz kreativ stimuliert werden, wie bspw. das Erstellen gemeinsamer Playlists in und für Phasen der Traurigkeit o.ä. Gerade mit solchen Ideen ist Kirche eine der innovativen Akteure, die mit ihrer Trost-Kompetenz Menschen erreicht. Gemeinschaft ist dabei nicht nur die zwischen Menschen, sondern zwischen den Menschen und Gott.

Hoffnung statt Klage

Neben der theologischen Klage, die bspw. in ökumenischen Gottesdiensten und kooperativ-kommunalen Trauerakten über die pandemische Situation geleistet wird, sollte es die primäre theologische Aufgabe sein, Hoffnung zu machen und zu verkünden.

Was die Menschen brauchen und erwarten, ist eine Kirche, die selbstbewusst und authentisch von Hoffnung erzählt, für diese betet und darin präsent ist. Das gilt nicht nur für die Kerngemeinden.

Die Erwartung der in Distanz Verbundenen ist nicht, dass Kirche was macht, sondern dass sie da ist.

Dieses Dasein sichtbar zu machen, ohne dass Menschen sich beteiligen müssen, ist nicht nur an den Hochfesten möglich.

„Die alte Kirche von vor der Pandemie wird es wohl nicht mehr geben“

so eine Schlussfolgerung aus dem Kreis der Teilnehmenden am Ende des Erfahrungsaustausches. Die Pandemie hat offensichtlich werden lassen, dass gemeindliche Aktivitäten und Terminpläne einer Plausibilitätsprüfung unterzogen werden müssen, inwieweit sie zur ambivalenzsensiblen Kommunikation des Evangeliums beitragen.

Das erfordert ein Innehalten, um so im Hören und Wahrnehmen die Themen zu identifizieren, nach denen die Herzen der Menschen sich sehnen. Dies fordert zuallererst die Kirche und ihre Akteure heraus: sich selbstreflexiv und im Gottvertrauen infrage zu stellen, um dann identitätsstiftend und sprachfähig für Andere werden zu können.

Entscheidend wird es dabei darauf ankommen, wie dies Christian Albrecht zugespitzt zurecht formuliert hat, ob und inwieweit es der Kirche und ihren Akteuren gelingt, transformierte Ideen, modifizierte Praktiken und neue Orte als Ensemble zu verzahnen. Der Prüfstein für eine Kirche der Zukunft dürfte sein, ob ein solches Ensemble den passiv Verbundenen, den in Sympathie Distanzierten einleuchtet, also plausibel ist.