Aus Liebe - zu Klima und Kiez

Die Klimakatastrophe ist vor Ort angekommen – auch in Deutschland. Mit voller Wucht in den Dörfern im Ahrtal, in denen durch die Flut 134 Menschen gestorben sind. Aber auch ganz alltäglich: In den Quartieren, deren Bewohner:innen unter den gesundheitlichen Folgen der jährlichen Hitzerekorde leiden; in den ländlichen Regionen, in denen Menschen eine neue Normalität zwischen Dürre und Waldbrand erleben. Dazu eine durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine befeuerte Energiekrise, die bisherige Logiken von Verfügbarkeit und sozialer Teilhabe erschüttert und die Notwendigkeit der sozial-ökologischen Transformation im Großen wie im Kleinen umso eindringlicher deutlich macht. Und mitten drin Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen, die angesichts der Veränderungen ihre Rolle vor Ort im Zusammenspiel mit anderen lokalen Akteur:innen neu finden müssen.

Vor diesem Hintergrund veranstalten die Evangelische Arbeitsstelle midi, das Referat Nachhaltigkeit der Evangelischen Kirche und Deutschland, die Diakonie Deutschland und die Evangelische Kirche von Westfalen eine digitale Reihe unter dem Titel „Klima – Kirche – Kiez. Klimagerechtigkeit in Sozialräumen als Aufgabe von Kirche und Diakonie“. Die Veranstaltungen der Reihe führen die beiden Megatrends Klimaschutz und Sozialraumorientierung zusammen, fragen danach, wie Menschen in Bottom-up-Prozessen zu Akteur:innen der Klimawende im Sozialraum werden, und wollen Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen ermutigen, vor Ort Partnerinnen für Klimagerechtigkeit zu sein.

Der Auftakt der Reihe am 26. Januar stand unter dem Thema „Klima von unten – Kirche und Diakonie als Partnerinnen für Klimagerechtigkeit im Sozialraum“. Impulse von namhaften Referierenden wie EKD-Schöpfungsbeauftragte Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt, Sozialraum-Expertin Dr. Maria Lüttringhaus und Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sowie Vertretern von diakonischen und kirchlichen Praxisprojekten eröffneten den Raum für den Austausch und die Vernetzung der über 100 Teilnehmenden. Die Impulse sind hier als Videos abrufbar.

Multiple Krisen und Hoffen in Gemeinschaft

Klimagerechtigkeit und Gestaltung von Sozialräumen sind Kernaufgaben von Kirche und Diakonie, so machte gleich zu Beginn Oberkirchenrätin Dr. Ruth Gütter, Referentin für Fragen der Nachhaltigkeit der EKD, in ihrem geistlichen Wort deutlich – und unterstrich, dass dies angesichts der multiplen, teilweise überfordernden Krisen der Gegenwart auch bitter nötig sei. Die wichtigste Aufgabe von Kirche sei es, trotz aller Überforderungen immer wieder nach dem Grund der Hoffnung zu suchen und von dem zu sprechen, das uns Hoffnung gibt, trotz allem. Und das am besten gemeinsam mit vielen anderen, die mit uns unterwegs sind. Dazu zitierte Gütter Christina Brudereck, die in ihrem Buch „Trotzkraft“ zu Psalm 52,11 („Ich hoffe in Gegenwart derer, die dich lieben.“) schreibt: „(…) Mit anderen gemeinsam hoffe ich. Leichter. Mutiger. Beharrlicher. Oft fühle ich mich allein. Manchmal fühle ich mich sogar in der Gemeinschaft allein. Aber ich bin nicht allein darin, mich allein zu fühlen. Und lasse mich daran erinnern, dass wir niemals ohne Gott sind. Vielleicht ist das ja der schönste Sinn von Kirche, immer wieder diese Erinnerung zu feiern.“

Der Sozialraum als Ort des Showdowns

Über viele Jahre hätten wir uns in Mitteleuropa der Illusion hingegeben, der Klimawandel wäre ein Zukunftsthema, so Walter Lechner, Referent für Sozialraumorientierung in Diakonie und Kirche bei der Evangelischen Arbeitsstelle midi, der im Anschluss in die Veranstaltungsreihe einführte. Heute wüssten wir es besser: Klimawandel ist jetzt. Und er hat Auswirkungen auf unser ganz unmittelbares Lebensumfeld, auf unsere Dörfer, Stadtteile und Quartiere – und auf die Menschen, die darin leben.

Gleichzeitig würden in den Sozialräumen die großen Entscheidungen – von zukunftsfähigem Konsumverhalten bis zur Energie-, Bau- und Verkehrswende – in konkreten Alltag umgesetzt und nötige Antworten erprobt. Damit sei der Sozialraum „Ort des Showdowns“, wenn es um Klimafolgen und Klimagerechtigkeit geht: die lokale Konkretion der globalen Perspektive. Als Stärke des Sozialraums in diesem Zusammenhang identifizierte Lechner Bottom-up-Prozesse, in denen sich Menschen vor Ort selbst ermächtigen und zu Akteur:innen ihres Lebens und des gesellschaftlichen Wandels werden.

Kirche und Diakonie wiederum richteten ihre Arbeit schon seit vielen Jahren am Sozialraum aus und hätten Klimagerechtigkeit als Topaufgabe für ihr Handeln erkannt. Grundlage für beides sei der Glaube an den dreieinigen Gott, der diese Welt geschaffen hat, in Jesus Christus sein Zelt „in der Nachbarschaft“ aufgeschlagen hat (Johannes 1,14) und uns mit seiner Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt, „be-geistert“.

Für sozialraumorientierte Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen gewännen die Fragen des Klimawandels zukünftig immer mehr an Bedeutung. Im Sozialraum und seinen Vernetzungen wiederum werde kirchlich-diakonisches Engagement für Klimagerechtigkeit konkret. Somit seien Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen prädestinierte Partnerinnen für Klimagerechtigkeit im Sozialraum.

„Mutausbrüche“ einer „church in the community“

Zuerst persönliche Ressourcen nutzen – dann eigene private Netzwerke aktivieren – im nächsten Schritt die Ressourcen des Sozialraums entdecken – und erst danach nach dem Subsidiaritätsprinzip und im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe die (künstlichen) Institutionen (Jugendhilfe, Eingliederungshilfe etc.) in den Blick nehmen: So beschrieb Dr. Maria Lüttringhaus, Diplompädagogin und Geschäftsführerin von LüttringHaus – Institut für Sozialraumorientierung, Quartier und Case-Management, im ersten größeren Impuls der Auftaktveranstaltung die Logik der Sozialraumorientierung. Diese bekäme in allen aktuellen Gesetzesnovellierungen hohen Stellenwert beigemessen. Die Grundidee nähmen Kirche und Diakonie seit 15 Jahren unter dem Begriff Gemeinwesendiakonie auf und rückten entsprechend näher zusammen. Der WIR & HIER Kongress 2021 hätte dieser Bewegung neuen Schub verliehen.

Bei der Arbeit in kirchlichen Räumen sieht Lüttringhaus einen Dreiklang: „church in the church“, „church with the community“ und „church in the community“. Bei letzterer Haltung gehen Kirchen hinaus und öffneten sich für den Sozialraum und dessen Herausforderungen. Sozialraum sei der Ort, an dem wir „social“, also gesellig, unter den Leuten seien. Kirchen hätten den Vorteil, dass sie, auch baulich, in der Regel schon mitten drin seien.

Auch in Bezug auf Klimaschutz sei der Sozialraumorientierung eine „Hinausforderung“ (Ulrich Lilie). Wie Jesus seine Jünger als Menschenfänger aussendet, sei es heute Aufgabe, Menschen bei den Veränderungen bezüglich der Klimakatastrophe mitzunehmen. Den Kirchen komme dabei die Rolle zu, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Jesus sei dabei role model, so Lüttringhaus, die sich selbst als Klimalobbyistin versteht. Sie richtete an die Kirchen die Frage, warum sie Kirchgebäude in Braunkohlegebieten entweihten, und dazu einlud, öfter einen „Mutausbruch“ zu haben. Kirche habe viel Raum und könne im Anschluss an die wundersame Brot- und Fischvermehrung durch Jesus die Gesellschaft zum „Social“-Sein und Teilen animieren. Lüttringhaus verwies auf Kathedralen in England, die das Thema Klimaneutralität überall sichtbar thematisieren und damit „Wandelkirchen“ sind, die den Wandel erlebbar machen.

In gleicher Weise könnten auch Kirchen in Deutschland aktiv werden. Als Beispiele führte Lüttringhaus Kirchengemeinden an, die Wohnraum (Mikrohäuser) um ihre Gebäude herum entstehen lassen, ihren Parkplatz zur Skateranlage umgestalten und so Verkehrswende veranschaulichen, einen energetischen Frühschoppen mit Sanierungsberatung durch Handwerksbetriebe und Energieberater veranstalten, Ladestationen für Fahrräder und Autos einrichten, sich öffentlich zu Tempo 100 bekennen („weil ich’s kann“, nicht weil ich muss), im Winter Wärmeräume und im Sommer Kühlungsräume zur Verfügung stellen, Foodsharing, Koch-Events für Jugendliche und „kleinschneidende Begegnungen“ (gemeinsames Schnippeln und Kochen) anbieten oder „Gießkannen-Heldinnen“ ermutigen, sich um Straßenbäume zu kümmern.

Die Menschen mitzunehmen heiße, sich in den Kirchengemeinden auf die Baby-Boomer zu besinnen, die die letzten Jahrzehnte, oft als Leitungskräfte, verändert haben, auf die Straße gegangen sind („Schwerter zu Pflugscharen“, Eine-Welt-Läden, Klimagerechtigkeit usw.) und jetzt in den „Unruhestand“ gehen. Deren Kompetenzen könnten abgegriffen werden.

Abschließend plädierte Lüttringhaus dafür, die Herausforderungen mit Zuversicht anzugehen und darauf zu vertrauen, dass wir uns in Krisenzeiten nicht gegenseitig terrorisieren oder zerfleischen, sondern zusammenhalten. Kirchen könnten hier eine neue Bedeutung gewinnen.

„Glokal“ Mitmenschlichkeit und Schöpfungsverantwortung leben

Was verbindet globale Klimagerechtigkeit und lokale Sozialraumorientierung, abgesehen von dem Postulat, dass beide wichtig sind? So fragte Kristina Kühnbaum Schmidt, Landesbischöfin der Nordkirche und Beauftragte für Schöpfungsverantwortung der EKD in ihrem Impuls – und gab auch gleich die Antwort: Beide (!) seien Ausdruck gelebter Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe und praktizierter Schöpfungsverantwortung.

Dazu erzählte Kühnbaum-Schmidt von der Begegnung mit einer Teilnehmerin bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen 2022 in Karlsruhe. Diese hätte mit Blick auf die langwierigen Diskussionen in Deutschland zu Tempolimit, möglichen Einschränkungen beim Fliegen oder Fleischkonsum sowie der Notwendigkeit, Menschen bei diesen Prozessen mitzunehmen, gesagt: „Aber bei uns sterben ganze Orte“ – nämlich weil Menschen wegen des Klimawandels nicht mehr an der Küste leben könnten. Anderswo, so die Gesprächspartnerin weiter, hätten Menschen gar keine Wahl, ob sie mehr oder weniger Fleisch essen wollen, da sie angesichts immer häufigerer Dürren oder anderer Folgen des Klimawandels froh sein mussten, überhaupt etwas zu essen und zu trinken zu haben. Während die Deutschen noch nachdächten und erste Schritte erwögen, litten andere darunter, dass die Menschen im globalen Norden überdurchschnittlich Ressourcen dieser Erde verbrauchten und zugleich auch noch für den Löwenanteil der C02-Emissionen verantwortlich seien. „Sind denn“, so die Gesprächspartnerin, „die Menschen im globalen Süden nicht auch eure Schwestern und Brüder? Und sind die aussterbenden Tiere und Pflanzen nicht auch eure Mitgeschöpfe?“

In solchen Begegnungen, so Kühnbaum-Schmidt, werde das Thema Klimagerechtigkeit konkret. Und es werde deutlich: Bei Klimagerechtigkeit geht es um die Verantwortung aller Menschen und um die Nutzung von Ressourcen, die allen Menschen auf dieser Erde gehören und nicht nur einem kleinen Teil der Weltbevölkerung. Für Christ*innen gehe es außerdem um unser Verhältnis zu Gottes Schöpfung und um unser Selbstverständnis als Gottes Geschöpfe. Durch unseren Lebensstil im Anthropozän gefährdeten wir andere Menschen, Gottes Geschöpfe und die Lebensgrundlagen. Damit widersprächen wir Gottes Liebe zu allem Leben.

Die Kirchen setzten sich durchaus für Klimagerechtigkeit ein, auch zusammen mit anderen und wollten in ihrer Praxis noch besser, glaubwürdiger und auch durchaus zu Treiber*innen eines besseren Klimaschutzes werden. Kühnbaum-Schmidt verwies auf das Ziel der Nordkirche, bis 2035 klimaneutral zu werden, und auf die von allen Landeskirchen mitgetragene Klimaschutzrichtlinie der EKD, nach der die evangelischen Kirchen bis 2035 zu 90 Prozent und bis 2045 ganz klimaneutral werden wollen.

Gleichzeitig arbeiteten schon viele Kirchengemeinden sozialraumorientiert und verstünden sich als Teil eines Netzwerks aller Menschen in Kommune, Stadtteil und Dorf. Dabei wäre es ihnen oft ein Anliegen, dass Menschen befähigt werden, auch in Sachen Klimaschutz die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Verfasste Kirche und Diakonie arbeiteten bei diesen Bemühungen oft eng zusammen, auch wenn hier noch erhebliche Potentiale ausgeschöpft werden könnten. Kühnbaum-Schmidt berichtete von Beispielen guter Praxis wie dem Projekt Q8 in Hamburg oder einem inklusiven Wohnviertel in Bargteheide, die sich für ein gelingendes Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Handicaps, Bildung, berufliche Neuorientierung und Treffpunkte im Viertel engagieren.

Sozialraumorientierung, so Kühnbaum-Schmidt weiter, orientiere sich an den Bedarfen vor Ort und sorge dabei für neue Kooperationen. Beim Einsatz für Klimagerechtigkeit kooperiere Kirche häufig mit den Kommunen, gerade mit Blick auf die durch den Klimawandel verursachten Veränderungen des Lebens im Sozialraum. Kirche und politische Kommune, verfasste Kirche und Diakonie wollten nachhaltige und menschengerechte Lebensverhältnisse für Menschen in ihrer Region erreichen. Auch darüber hinaus entstünden in vielen Gemeinwesen Netzwerke für Klimagerechtigkeit und gegenseitige Hilfen – sozusagen „sorgende Gemeinschaften“, die sich um Menschen, Klima, Gottes Schöpfung, Natur, Umwelt und Biodiversität sorgen. Weil alles Leben auf der Erde verbunden ist, sei Klimaschutz immer auch Menschenschutz und gehörten globale und lokale Ebene zusammen. Kühnbaum-Schmidt äußerte den Wunsch, dass sich wir uns noch stärker „glokal“ aufstellen – und uns entsprechend um das Klima und um nahe wie ferne Mitmenschen gleichermaßen sorgen.

Klimagerechtigkeit und Sozialraumorientierung, Kühnbaum-Schmidt abschließend, gehörten als Ausdruck gelebter und praktizierter Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und Schöpfungsverantwortung zusammen und könnten sich gegenseitig befördern. Es wäre daher gut, beide miteinander zu verbinden und auch nach neuen Verbindungen zu suchen.

Resiliente Sozialräume durch soziale und ökologische Transformation

Diakonie wolle mit den Menschen und an deren Kompetenzen und Bedürfnissen orientiert gute Lebensverhältnisse gestalten und die Kraft und Energie, die in jedem Menschen steckt, zum Schwingen bringen, machte Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, deutlich. Da jeder Mensch in einem konkreten Beziehungsfeld und einer sich aufgrund von Klimawandel, Migration und demographischem Wandel grundlegend verändernden Welt lebe, habe Nächstenliebe immer auch eine politische Dimension. Alle Menschen spürten auf ihre Weise die Folgen der gegenwärtigen Zeitenwende und des grundlegenden Wandels. Darum wolle Diakonie ihren Teil dazu beitragen, dass diese Erde für alle Menschen und auch für die zukünftigen Generationen lebenswert ist und lebenswert bleibt. Mit Blick auf den Schöpfungsauftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, habe Diakonie es sich zum Ziel gesetzt, bis 2035 klimaneutral zu wirtschaften. Zur Erreichung dieses ambitionierten Ziels sei der Sozialraum entscheidend – nach dem Motto „Think globally, act locally“. Die konkrete Nachbarschaft sei der Ort, an dem globale Weichenstellung der Klimaneutralität lokal mit Leben gefüllt, umgesetzt und vorangetrieben werden – oder eben nicht. Viele diakonischen Träger und Einrichtungen gingen hier bereits voran. Das große Ziel, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen, könne aber nur gemeinsam mit allen Partnerinnen im Sozialraum umgesetzt werden: Kirchengemeinden, Schulen, Vereinen, lokaler Verwaltung, anderen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und diakonischen Trägern und Einrichtungen. Als Beispiel nannte Lilie öffentliche Ladesäulen für E-Autos, die von ambulanten Diensten der Diakonie ebenso wie von allen anderen Partner*innen im Sozialraum genutzt werden könnten.

Mit einem neuen, kooperativen Verständnis, mit einem Blick auf die gemeinsamen Möglichkeiten und mit Vernetzung wäre die großen Herausforderung bewältigbar und böten sich wunderbare Chancen. Dies veranschaulichten in Herzogsägmühle ein renaturiertes Moor, ein von Bioland zertifizierter Garten- und Landschaftsbaubetrieb, eine von Bioland zertifizierte Metzgerei sowie Ausbildungsmöglichkeiten in sieben oder acht Berufen für junge Menschen, etwa nach langen psychischen Krisen – mit einer Vermittlungsquote in den ersten Arbeitsmarkt von über 80 Prozent. Das sei sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltig, ohne schmallippig zu sein, und schaffe neue Lebensqualität für viele.

Diakonisches Handeln, so Lilie, fuße auf dem biblischen Verständnis dieser Welt als einer anvertrauten Gabe, als einer guten Schöpfung Gottes und des Menschen als Ebenbild Gottes sowie als durch und durch soziales Wesen. Mit diesem Wissen und Auftrag stellten sich diakonische Akteure vielerorts schon seit langem sozialräumlich auf, nähmen den Menschen ganzheitlich ernst und strebten gleichzeitig den Umbau ihrer Arbeit hin zu mehr sozial-ökologischer Nachhaltigkeit an. Dazu bräuchten sie verlässliche Rahmenbedingungen der Politik und Finanzierungsbedingungen, die ihnen helfen, konstruktiver und engagierter Teil der Lösung zu sein. Diakonie schließe dazu gerne auch neue, ungewöhnliche Bündnisse.

Um zukunftsfähige und resiliente Sozialräume zu erreichen, müssten sowohl die ökologische als auch die soziale Komponente gut bedacht und die Widerstandsfähigkeit bezüglich der Konsequenzen des Klimawandels deutlich gesteigert werden. Die dafür nötige langfristige Veränderung fange im Sozialraum, im Quartier, in den Nachbarschaften und nicht zuletzt beim einzelnen Menschen an, dessen konkreten Bedürfnisse zugleich nicht vergessen werden dürften. Die gemeinsame Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation erfordere von allen einen neuen Geist der Kooperation, der Vernetzung und der grundlegenden Veränderungsbereitschaft. Vor Ort entscheide sich, wie ernst es uns mit unserem biblischen Auftrag und mit unserem Beitrag zur Lösung dieser Menschheitsaufgabe tatsächlich ist.

Diakonie Herzogsägmühle: Gemeinwohlbilanz und Reform der Refinanzierung

Das Diakoniedorf Herzogsägmühle stellte Wilfried Knorr als einen konkreten Sozialraum auf dem Weg zur Klimaneutralität vor. Der frühere Geschäftsführer der Diakonie Herzogsägmühle gGmbH profilierte diese mit als ein Pionierunternehmen in der diakonischen Landschaft, welches demnächst voraussichtlich zum dritten Mal gemeinwohlzertifiziert wird. Aus seinen Erfahrungen heraus benannte Knorr drei Thesen:

  • 1. Kirche der Zukunft lebe nicht in erster Linie von Kasualien und Verkündigung, sondern von einer glaubwürdigen Verbindung mit der Diakonie vor Ort. Gemeint sei damit nicht die unternehmerische Diakonie, sondern eine Diakonie, die vor Ort unmittelbare Not lindert und Ehrenamt aktiviert, z. B. bei der Tafel und in der Flüchtlingshilfe. Wo Kirche und Diakonie sich in diesen Bereichen miteinander verbünden, erlebten Menschen im Umfeld wie auch die Ehrenamtlichen und Mitarbeitenden diese als glaubwürdig. Die Gemeinwohlbilanz sei dabei ein hervorragendes Instrument, um ethisch verantwortetes Wirtschaften zu beweisen und zu messen. Im Gegensatz zur Finanzbilanz, die überhaupt nichts darüber aussage, wie Geld verdient oder verbraucht wird, gebe die Gemeinwohlbilanz Auskunft über die Realisierung der vier Werte der Gemeinwohlökonomie: Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und Transparenz. 
  • 2. Klimagerechtigkeit sei mehr als der Fokus auf CO2-Ausstoß und Energieverbrauch, sondern bedeute, das gesamte Handeln des Unternehmens in den Blick zu nehmen: Inwiefern werde die Umwelt nicht nur durch Emissionen belastet, sondern auch durch unterlassene Anstrengungen, fehlende Anreize für Mitarbeitende oder eine problematische Unternehmenskultur, die Verbrauch statt Ressourcenschonung in den Mittelpunkt stellt? vor diesem Hintergrund sieht Knorr etwa den Handel mit Emissionszertifikaten außerordentlich kritisch. 
  • 3. Damit klimaneutrale Sozialarbeit 2035 für die Menschen und die Mitarbeitenden tatsächlich anfassbar und konkret wird, müsse man als erstes ein vernünftiges Kennzahlensystem entwickeln, um den Ist-Stand zu messen, etwa in der Abfallwirtschaft, der Energieversorgung und der Mobilität, bei der Beteiligung von Mitarbeitenden an unternehmerischen Entscheidungen und bei der Transparenz der kritischen Unternehmensdaten. Erst eine entsprechende Unternehmenskultur mache Klimaneutralität überhaupt möglich. Die Umstellung der Mobilität, die energetische Sanierung von Gebäuden, die Veränderung der Energieversorgung und andere konkrete Maßnahmen wiederum kosteten Geld. Die Refinanzierung der sozialen Arbeit in Deutschland müsse sich daher verändern, um Unternehmen einen Anreiz zu bieten, ihr Wirtschaften entsprechend umzugestalten. Die derzeitige Gesetzgebung im Sozialgesetzbuch, nach der die Leistung den Geboten der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit folgen muss, verhindere das. Diese Faktoren müssten um das Gebot der Nachhaltigkeit ergänzt werden. Das zu erreichen, sei in der Debatte um Klimaneutralität das wichtigste und dringendste politische Ziel für die nächste Legislaturperiode. So würde kein Altenheimbetreiber darauf verzichten, 50 Cent pro Tag mehr bekäme, wenn er beweisen könnte, dass er regional und saisonal einkauft.

Kirche und Transition-Town-Bewegung in Nürnberg: Kirche als Netzwerkerin und stärkende Kommunität

Als weiteres Praxisbeispiel berichtete Thomas Zeitler von der Kooperation von Kirche und Transition-Town-Bewegung in Nürnberg. Dort war Zeitler viele Jahre für den Eine-Welt-Laden „Lorenzer Laden“ und die dort angesiedelte landeskirchliche Basisgemeinde als Pfarrer zuständig und ist heute Pfarrer für Kunst- und Kulturarbeit an der Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Egidien Nürnberg.

In der Innenstadt von Nürnberg versuche die Kirche seit vielen Jahren den Brückenschlag zur sozialökologischen Transition-Town-Bewegung. Diese inzwischen weltweite Bewegung von Initiativen habe im südwestenglischen Landstädtchen Totnes ihren Anfang genommen. Der dortige Permakultur-Landwirt und -Gärtner Rob Hopkins habe Ideen entwickelt, um die lokale Community resilient für Situationen wie Peak Oil und das Scheitern der großen, sehr fragilen Netzwerke zu machen. Dafür habe er mit anderen Projekte gestartet – etwa die Einführung eines Regionalgeldes, des „Totnes-Pfunds“, die Gründung einer lokalen Bierbrauerei und vieles mehr. Mittlerweile gebe es weltweit 450 entsprechende Initiativen, davon etwa 100 in Deutschland.

Der Initiator der Transition Town-Bewegung in Nürnberg sei in seiner Jugend im kirchlichen Weltladen sozialisiert worden und habe, da Kirche ihm immer zu langsam gewesen ist, außerhalb der Kirche ein großes Netzwerk mit vielen verschiedenen Initiativen auf die Beine gestellt. Ein wesentlicher Pfeiler davon sei Bildungsarbeit, wie der Ernährungsrat Nürnberg, der alle Gruppen, die sich mit Ernährung beschäftigen, vernetzt, eine Kinoreihe zum Thema Nachhaltigkeit sowie ein Begleitprogramm zur Biofach, der größten Messe für biologische Lebensmittel weltweit, die in Nürnberg stattfindet.

Konkrete Veränderungsprojekte seien etwa die gemeinschaftlich gepflegten Stadtgärten, ein Netz von ausleihbaren Lastenrädern, eine Gruppe, die zur Müllvermeidung Stoffbeutel näht und in Bäckereien verteilt, ein Buch zur Share Economy, das aufzeigt, wo Dinge ausgeliehen werden können, anstatt sie sich selbst anzuschaffen, sowie ein kritischer Konsumführer für Nürnberg.

Ähnliche kleine ehrenamtliche Initiativen könnten auch Kirchengemeinden starten oder zumindest bei sich beherbergen. So hätten sich der Weltladen und die dort angesiedelte Basisgemeinde in Nürnberg vor einigen Jahren bewusst dazu entschlossen, mit den vielen Initiativen zu kooperieren und ihre Räume am günstigen Standort in der Innenstadt für Gruppentreffen und gemeinsame Aktivitäten zur Verfügung zu öffnen. So sei heute etwa im Weltladen eine Mediathek untergebracht, deren Bücher und DVDs Interessierte ausleihen können. Kirche und Initiativen kooperierten auch etwa beim Parking Day, bei dem Parkplätze für einen Tag in Lebensräume umgewandelt werden.

Seine jetzige Innenstadtgemeinde, so Zeitler weiter, konzentriere sich eher auf Kulturarbeit, starte aber, inspiriert von ihrem Namenspatron, dem Heiligen Egidius, einem großen Ökologen und Tierschützer schon vor dem Heiligen Franziskus, transformative Eigeninitiativen aus der Gemeinde heraus. So habe die Gemeinde etwa einige Zeit lang einen eigenen, ehrenamtlich getragenen Feierabend-Biomarkt im alten Klosterhof veranstaltet. Im Turmzimmer der Kirche habe die Gemeinde ein Depot für eine Solidarische Landwirtschaft eingerichtet. Dabei finanzierten rund dreißig Haushalte einen kleinbäuerlichen gemischten Betrieb der Region jährlich vor und teilten dann die Ernte miteinander. Nach diesem Vorbild seien inzwischen auch andere Kirchengemeinden diesem Solawi-Netzwerk beigetreten. Im Projekt „Essbare Stadt“ wiederum würden vor der Kirche Kübel mit Pflanzen aufgestellt, deren Früchte die Menschen abernten könnten. Ebenso seien Blühkasten-Initiativen in der Nachbarschaft gewachsen. Derzeit werde mit Denkmalschutz und Stadt erörtert, ob zur Wasserversorgung solcher Projekte ein Wasser-Reservoir an der Kirche oder im öffentlichen Raum aufgestellt werden könnte.

Auch wenn sich Menschen, die gemeinsam im selben Themenfeld politisch oder transformatorisch unterwegs sind, schlössen diese sich nicht automatisch zu einer Gemeinde zusammen, so Zeitler zum Abschluss. Aber Kirche könne als spiritueller oder gemeindlicher Ort für diese Menschen eine Rolle spielen. So nehme er bei den Aktiven Stärkungs- und Austauschwünsche wahr. Angeregt durch die schottische Iona-Kommunität wolle die Kirchengemeinde als ehemalige Klosterkirche daher gerade eine Projektstelle generieren, um eine Stadt-Kommunität als Netzwerk für öko-sozial-transformativ engagierte Menschen zu entwerfen und auszuprobieren. Für eine Kirche der Zukunft brauche es solche Orte, die nicht klassisch eng und vereinsmäßig vergemeinden, sondern tatsächlich eher netzwerkartig, stärkend und unterstützend agieren und eine bewusste Schöpfungsspiritualität anbieten, sichtbar machen und leben. Die Gefahr, auszubrennen und zu verzweifeln, sei für in solchen Bereichen engagierte Menschen nämlich ziemlich groß.