Aufhören, um weiterzukommen – Exnovation als Schlüssel zur Transformation
Interview
Prof. Dr. Sandra Bils ist Referentin für strategisch-innovative Transformationsprozesse bei midi. Gemeinsam mit der Wirtschaftspsychologin und Unternehmensberaterin Dr. Gudrun Töpfer hat sie 2024 das erste deutschsprachige Grundlagenwerk zum Thema Exnovation veröffentlicht: „Exnovation und Innovation. Synergie von Anfang und Ende in Veränderungen“ (Schäffer-Poeschel).
Hallo Sandra Bils! Bei midi arbeiten wir ja derzeit mit Hochdruck an der Planung der Exnovations-Tagung „Mut zum Schluss: Was passiert, wenn wir aufhören?“, die am 12. und 13. Mai 2025 stattfindet. Der Titel klingt eher nach Abschied als nach Aufbruch. Warum sollte man sich dennoch anmelden?
Bils: Weil Exnovation der blinde Fleck in vielen Transformationsprozessen ist. Wir reden fast ausschließlich über Innovation – über das Neue, das entsteht und die jeweils weitere kreative Idee, die neu hinzukommt. Aber kaum jemand beschäftigt sich strategisch mit der Frage, was wir dafür lassen, beenden oder aufgeben müssen. Exnovation ist der strategische Abschied von dem, was nicht mehr trägt. Das kann ein überholtes Projekt sein, eine ermüdete Struktur oder auch ein liebgewonnenes Format. Wenn wir Veränderung wirklich wollen, brauchen wir an manchen Stellen den Mut zum Schluss – denn ohne das bewusste Freiräumen und dankbare Verabschieden von Dingen, die nicht mehr tragen, entsteht nichts wirklich Neues.
Das klingt fast geistlich. Welche Rolle spielt Exnovation besonders in kirchlichen Kontexten?
Bils: Eine große. Und eine unterschätzte. In unseren kirchlichen Bezügen sind wir mit einem starken Traditionsbewusstsein unterwegs. Vieles ist zudem emotional und institutionell ungeheuer aufgeladen. So wird das traditionelle Erbe manchmal auch zur Traditionslast. Ich erlebe in vielen Beratungsprozessen, dass es nicht an Ideen mangelt, sondern an Raum. Raum im Kopf, in der Struktur, in den Budgets. Exnovation hilft, diesen Raum zu schaffen – strategisch, geistlich und kulturell. Ich spreche gern von „selektiver Kontinuität.“ Fast wie es die Jahreslosung aus 1. Thessalonicher 5,21 ausdrückt: Es geht nicht darum, alles Alte über Bord zu werfen. Sondern klug zu unterscheiden, was weitergeführt und was losgelassen wird. „Prüft alles und behaltet das Gute.“
Aber gerade in Kirche hat bewusstes Beenden und Loslassen oft einen schlechten Ruf. Wie umgehen mit der Angst vor dem Ende?
Bils: Die Angst ist real – und sie ist menschlich. Wir alle sind verlustavers: Wir fürchten das Loslassen oft mehr als nötig. Aber Stillstand kostet langfristig mehr als Wandel. Diese Zwickmühle kann als „Exnovator’s Dilemma“ beschrieben werden. Wir ahnen, so wie es ist, scheint es (langfristig) nicht weiterzugehen, aber der Abschied von Liebgewonnenem und Vertrauten fällt trotzdem schwer. Organisationen geraten somit oft in Zielkonflikte – etwa zwischen Identität und Veränderung, kurzfristigem Erfolg und langfristiger Wirksamkeit. So gesehen ist Exnovation kein destruktiver Akt, sondern ein schöpferischer. Aus dem vermeintlichen Ende kann ein neuer Anfang entstehen. Denken wir an das Kirchenjahr: Karfreitag und Ostern zeigen den tiefsten Sinn dieses Prozesses – Loslassen schafft Raum für neues Leben.
Welche Rolle spielt dabei die neue Exnovations-Toolbox, die auf der Tagung vorgestellt wird?
Bils: Die exMove Toolbox ist unsere Antwort auf die Frage: „Wie macht man das eigentlich – gut aufhören, im Dank verabschieden, das Ende klug kommunizieren?“ In der Toolbox haben wir Methoden gesammelt oder selbst entwickelt, die helfen, Exnovationsprozesse sinnvoll zu gestalten. Einige stammen aus der systemischen Beratung, andere aus dem Innovations- und Changebereich. Von kleinen, niedrigschwelligen Methoden bis zu Impulsen für größere Abschiedsprozesse ist alles dabei. Wichtig war uns: Es braucht nicht nur Tools zum Entscheiden, sondern auch Räume für Trauer, für Anerkennung des Gewesenen – und für die Lust aufs Danach.
Hast du ein Lieblingsbeispiel für gelungene Exnovation?
Bils: Ja, als Schokoladenliebhaberin fällt mir der Ideenfriedhof der österreichischen Schokoladenmanufaktur Zotter ein. Dort werden neben Produkten, die gefloppt sind, auch bewusst die erfolgreichen Schokoladensorten ausgelistet, um Platz für Neues zu schaffen. Exnovation ist hier Teil der Unternehmenskultur. Ich finde das sehr inspirierend. Alle Schokosorten, die aus der Produktion genommen wurden, werden auf dem Firmengelände auf dem Ideenfriedhof beerdigt. Man kann das Areal bei Werksführungen sogar besichtigen. Für unsere kirchlichen Kontexte finde ich den „Ideenfriedhof“ als Symbol hilfreich: Da ruht nicht der Misserfolg, sondern das mutige Loslassen und vielleicht auch die Auferstehungshoffnung, dass etwas Spannendes Neues nachkommt. Wir freuen uns sehr, dass Unternehmenschef Josef Zotter bei der midi-Tagung mit dabei sein wird.
Was wünschst du dir von der Tagung?
Bils: Ich wünsche mir, dass Exnovation als gleichwertige Partnerin der Innovation gesehen wird. Dass wir aufhören, im Modus der ständigen Addition zu denken. Raus aus dem Wachstumsparadigma von „immer höher, schneller, weiter“. Ich wünsche mir, dass Exnovation in diesem Sinne nicht als Scheitern verstanden wird, sondern als kluger, manchmal sogar liebevoller Schritt in Richtung Zukunft. Und dass wir lernen, Sabbatzeiten und bewusste Brache als Chance zu begreifen. Denn jeder Anfang braucht ein Ende – und das Ende darf gut gemacht sein.
Vielen Dank für das Gespräch.
Mut zum Schluss: Was passiert, wenn wir aufhören?
Die midi Exnovations-Tagung am 12. und 13. Mai 2025 lädt dazu ein, das bewusste Beenden als Schlüssel zur Erneuerung zu entdecken – mit Impulsen, Workshops und Raum für kollegiale Inspiration rund um Exnovation in Kirche und Diakonie. Mehr Infos und Anmeldung.