Was wurde eigentlich aus 2015?

In vielen Kirchengemeinden ist es fast schon wieder vergessen: Als 2015 die Bundesregierung die deutschen Grenzen aus humanitären Gründen für Geflüchtete aus Syrien öffnete, waren die staatlichen Stellen überfordert. Die Zivilgesellschaft unterstützte daraufhin in vielfältigster Weise die ankommenden Menschen und übernahm Verantwortung für ihre Erstaufnahme und Integration.

Nächstenliebe war unmittelbar möglich.

Helfen – schnell, unbürokratisch und selbstlos

Ein wesentlicher – und vor allem organisierter Teil – innerhalb des zivilgesellschaftlichen Engagements waren (und sind es bis heute) die Kirchengemeinden, egal welcher Konfession.

Sie unterstützten maßgeblich in Erstaufnahmeunterkünften mit Manpower, Sach- und Geldspenden, Zeit, Sprachkursen, Patenschaften manchmal auch mit Kirchenasyl und vielem mehr. Die Nächstenliebe zum Fernsten war unmittelbar möglich und sie wurde geleistet.

Für viele Gemeinden ist es zu einem wichtigen Punkt in ihrer jüngsten „Kirchengeschichte“ und zu einem Teil ihrer Identität geworden, dass sie damals schnell, unbürokratisch und selbstlos geholfen haben.

Was in dieser Zeit an vielen Orten auch funktioniert hat, war das reibungsarme Zusammenarbeiten von Diakonie und Kirche.

Diakonie und Kirche gemeinsam

Was im Alltag und im Zuge der Sozialraumorientierung von diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden immer wieder eingefordert wird – und doch nicht immer gelingt –, das hat in dieser Zeit hervorragend funktioniert. Jede Seite brachte ihre Stärken ein und war gleichzeitig dankbar für die komplementär-ergänzenden Kompetenzen der anderen. Man lernte sich neu – mancherorts überhaupt – kennen und damit auch die Ressourcen und Fähigkeiten, die die Partnerin hatte.

Tatort Nächstenliebe: Die Zigarettenfabrik

Ein Beispiel von Tausenden darf an dieser Stelle genannt sein: Im Berliner Stadtteil Spandau hatte die Berliner Stadtmission eine ehemalige Zigarettenfabrik innerhalb weniger Tage zu einem Erstaufnahmelager „umfunktioniert“ – „umgebaut“ kann man bei dieser kurzen Zeit nicht sagen. Als die Organisatoren der Anruf ereilte, dass in wenigen Stunden 200 Geflüchtete ankommen werden, waren bereits die Whats-App-Gruppen der naheliegenden Kirchengemeinde darauf vorbereitet und unzählige Helferinnen und Helfer standen bereit, um die Geflüchteten willkommen zu heißen, sie mit Bett- und Waschzeug auszustatten, die Essensverteilung zu übernehmen und – und – und.

Wichtiger aber erscheint mir noch Folgendes: Kurz nach Inbetriebnahme dieses Erstaufnahmelagers artikulierte sich der Widerstand einiger Anwohnerinnen und Anwohner. Sie wollten politisch und auch anderweitig Druck ausüben und erreichen, dass diese diakonische Unterbringung wieder geschlossen wird. In diesem Konflikt stand die Kirchengemeinde eng an der Seite der Diakonie und rechtfertigte diese Arbeit auf den unterschiedlichsten Ebenen und in vielen Gesprächen.

„Wir schaffen das.“

Diese Erfahrung des kirchlich-diakonischen Miteinanders konnte damals bundesweit gemacht werden – von München bis Rostock, von Aachen bis Frankfurt (Oder). Die immer wieder betonten unterschiedlichen Systemlogiken von Kirche und Diakonie waren für einen kurzen Zeitraum produktiv kompatibel und nicht gegeneinander abgrenzend.

Während viele heute noch ein gespaltenes Verhältnis zu dem damals prägenden Satz „Wir schaffen das.“ haben, muss man ihn ohne Zweifel neu formulieren: „Wir haben das geschafft.“

Dass es geschafft wurde, daran haben Kirchengemeinden und Diakonie ihren Anteil

und sie haben es auch geschafft, darüber ein neues Verhältnis zueinander zu gewinnen.

Was ist aus diesen Erfahrungen geworden? Wo erinnert man sich daran und was wird daraus gemacht?

Projekt: Wohnen für Alle – Integration braucht ein Zuhause

In Bayern versucht man diese Zusammenarbeit von 2015 weiterzuführen. Braucht es heute weniger Sprachkurse und gesellschaftliche Einstiegshilfe, so liegt eine Herausforderung darin, mit einem arabischen bzw. ausländischen Nachnamen eine Wohnung zu finden.

Das gemeinsame Projekt von Kirche und Diakonie »Wohnen für Alle – Integration braucht ein Zuhause« soll Menschen mit Migrationshintergrund dabei unterstützen, Mietwohnraum zu finden, sich für diesen zu bewerben und erfolgreich zu mieten.1

  • Durch Schulungen sollen sie dazu befähigt werden, selbständig und sicher in den Themen »Wohnungssuche, Vertragsgestaltung, Mietkostenabrechnung und Erwartungen an Mieter*innen« zu werden. Gegenüber den Vermietenden will man bewusst »den guten Leumund von Kirche und Diakonie« einbringen, um Vertrauen zu katalysieren.
  • Kirche und Diakonie bleiben Ansprechpartnerinnen auch nach Abschluss des Mietvertrages und helfen »bei der Klärung von Problemlagen im Mietverhältnis« durch eine eigens eingerichtete Vermieterhotline bzw. durch die Projektmitarbeitenden.
  • Ein weiteres Ziel des Projektes ist es, in den beteiligten Dekanaten bzw. Kirchengemeinden Menschen zu gewinnen, die ihren vermietbaren Wohnraum Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit Migrationserfahrung anbieten.

Für Großstadtregionen könnte dieses Projekt einen Pilotcharakter haben und helfen, dass Kirche und Diakonie gemeinsam einen gesellschaftlichen Beitrag zu den Themen „Grundrecht auf Wohnen“ und Migration leisten.

Vielleicht werden wir rückblickend im Jahr 2015 den Beginn eines neuen und engen Verhältnisses von Diakonie und Kirche entdecken.

Der Sozialraumkongress »Wir & Hier« im April in Hamburg liefert dafür die passenden Beispiele, die noch verborgen oder nicht erzählt sind.

Was 2015 aber in jedem Fall ad absurdum geführt hat, ist die vermeintliche Wahrheit, dass die die Systemlogiken von Diakonie und Kirche nicht kompatibel wären. Sie sind es.