Trauen Sie Ihrer Gemeinde etwas zu?
In meiner Ausbildungsgemeinde hatte es Jahrzehnte zuvor einen begnadeten Prediger gegeben. Die Menschen kamen teilweise von weither, um seine Gottesdienste zu besuchen. Sonntag für Sonntag war die Kirche überfüllt. Freilich: Als der Mann in Pension ging, war die vormals so volle Kirche nach kürzester Zeit nahezu leergefegt. Was wie eine total lebendige Gemeinde ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit nur ein Fanclub des betreffenden Pfarrers gewesen. Er hatte die Menschen nicht an Jesus Christus, sondern an seine eigene Person gebunden. Er hatte andere Menschen nicht in seine Theologie mit hineingenommen, sondern sie lediglich wortgewaltig von der Kanzel herab verkündigt.
Bereits vor Kurzem habe ich geschrieben, dass die Zukunftsfähigkeit unserer Kirche daran hängt, dass wir lernen, Theologie mit den Menschen und nicht nur Theologie für die Menschen zu betreiben.
Meine Erfahrung ist tatsächlich, dass die Kirche in ihren unterschiedlichsten (auch diakonischen) Formen und Gestalten überall dort aufblüht, wo Pfarrerinnen und Pfarrer und andere Menschen mit theologischer Ausbildung ihre Fertigkeiten nicht für sich behalten, sondern mit anderen teilen.
Umgekehrt bereitet Kirche überall dort ihren Abgesang vor, wo Theologie zum Herrschaftswissen einiger Weniger verkommt. Darum glaube ich auch, dass das Berufsbild von Pfarrerinnen und Pfarrern viel zu stark auf das Thema „Predigt“ zugespitzt ist.
Wir sind hervorragend darin ausgebildet, unser theologisches Wissen mitzuteilen – aber nicht darin, wie man es mit andern teilt. Und das ist leider ein großer Unterschied.
Das bedeutet natürlich nicht, dass Prediger*innen ihre Gottesdienste zukünftig schlampiger vorbereiten und mit geringerer Kunstfertigkeit durchführen sollen. Wenn Predigen Ihre Gabe ist: Tun Sie das um Gottes willen! Aber entwickeln Sie gleichzeitig eine Systematik, wie Sie anderen an Ihrem theologischen Know-how und Wissen Anteil geben können.
Predigtnachgespräche sind wahrscheinlich die einfachste Methode, hier einen Schritt weiterzugehen. Ganz Mutige führen ein solches Gespräch vielleicht sogar im Gottesdienst selber, etwa in Form eines Frage- und Antwortteils. Oder man könnte einen Predigtvorbereitungskreis installieren bzw. von Zeit zu Zeit zu einem offenen Predigtvorbereitungsgespräch einladen.
Kein geringerer als der Apostel Paulus hat diese Form der „Predigt“ gerne und häufig praktiziert. In Apostelgeschichte 18,4 heißt es: „Und er lehrte in der Synagoge an allen Sabbaten und überzeugte Juden und Griechen.“ Das Wort, das hier mit „lehren“ übersetzt wird, heißt im Griechischen „dialegein“: einen Dialog führen. Paulus, der große Völkermissionar, stellte sich nicht einfach hin, predigte und ging dann wieder, sondern trat mit den Menschen in einen Dialog. Er war nicht der Meinung „Ich weiß es und ihr müsst zuhören“, sondern er nahm die Menschen als theologische Gesprächspartner*innen ernst.
Menschen in ihrer Theologiefähigkeit ernst zu nehmen und zu fördern geht allerdings weit über das gottesdienstliche Geschehen hinaus.
Besuchsdienstkreise, Kindergottesdienstteams und andere Mitarbeitendengruppen sind klassische Orte, wo wir andern helfen können, Zutrauen in ihre Theologie- und religiöse Sprachfähigkeit zu entwickeln. Personenkreise wie ehrenamtliche Seelsorgerinnen oder Prädikanten oder Konfirmandenhelfer*innen warten teilweise sehnsüchtig darauf, dass Pfarrerinnen und Pfarrer die Bereiche Gottesdienst, Seelsorge und Unterricht nicht zu ihrer alleinigen Domäne erklären, sondern andere mit hineinnehmen: ihnen etwas zutrauen, sie ermutigen und befähigen, das allgemeine Priestertum der Gläubigen wahrzunehmen. Und im Kirchenvorstand könnte man ein Tagesordnungsthema etwas ausführlicher auch von seiner theologischen Bedeutung her besprechen. Wichtig wäre, dass viele dabei zu Wort kommen und sich ernst genommen fühlen.
Glaubens- und Theologiekurse sind ein weiteres gutes Mittel der Wahl, wenn es darum geht, Menschen Lust auf Theologie zu machen. Hauskreise und andere Gruppen, in denen man Bibel liest und darüber diskutiert und betet, sind, wenn sie sich nicht vom allgemeinen Geschehen abschotten, für die Gemeinde Gold wert. Und auch in manchen diakonischen Einrichtungen gibt es solche Kreise – Gott sei Dank!
Apropos: Gerade in der Diakonie, in der sehr viel weniger Theolog*innen unterwegs sind als in der übrigen Kirche, heißt das umso mehr, andere Menschen zu ermächtigen und zu empowern: etwa indem man Seelsorgekurse für Pflegekräfte anbietet, indem man Menschen ermutigt und ggf. auch anleitet, kleine Andachten zu halten oder mit Menschen am Krankenbett oder anderswo zu beten und sie zu segnen.
Wie heißt es so schön? „Gib einem Menschen einen Fisch, so hat er einen Tag lang zu essen. Lehre ihn fischen, so hat er für sein ganzes Leben genug – und er kann anderen noch etwas davon abgeben.“
Jede Bemühung, Menschen in ihrer Theologie- und Sprachfähigkeit zu unterstützen, ist ein wichtiger Beitrag zur Zukunft unserer Kirche.
Es geht nicht nur darum, andere Menschen zu versorgen, sondern sie zu befähigen.