Pop Up Church

Kirche im Aktionsformat

Einerseits ist das Christentum omnipräsent – und in vielen kulturellen Zusammenhängen sogar so selbstverständlich, dass wir dessen Wechselwirkungen gar nicht mehr auf die christliche Religion zurückführen. „Nächstenliebe“ ist zu einem Leitbegriff unserer Kultur geworden, das hohe Ideal des Helfens hat sich säkularisiert. Gott sei Dank, möchte man ausrufen – oder auch: zum Glück!

Andererseits haben die „Darstellerinnen“ und „Darsteller“ der christlichen Religion kulturellen Seltenheitswert erlangt. „Meine Jüngste studiert Theologie“, sagt eine Mutter auf einer evangelischen Beerdigung in Brandenburg und die Klassenkameradin entgegnet entgeistert: „Meint sie das ernst?“

Pastorinnen und Pastoren – das sind immer die anderen.

Dass dieser weltliche und zugleich überweltliche Beruf in die eigenen biografischen Zusammenhänge hineinfällt, ist alles andere als selbstverständlich. Die alttestamentliche Kategorie dafür ist die Kategorie der „Aussonderung“ der Leviten (Numeri 3,41).

Und so sind wir Pastorinnen und Pastoren auf der anderen Seite sehr darum bemüht, uns möglichst „normal“ und „nahbar“ zu präsentieren, so dass man sich mitunter wiederum fragt, was an der ganzen Sache eigentlich „dran“ ist.

Das veralltäglichte, das diskrete Christentum hat einen Preis – die Tendenz zur Unsichtbarkeit.

Der Talar – für Kinder sind wir darin mitunter schwarze Gespenster

Es gibt jedoch einen liturgischen Gegenstand, der die gesellschaftliche Sonderrolle sichtbar erhält: Den Talar. Ihn tragen wir eigentlich nur, wenn wir uns um das „Außeralltägliche“ kümmern: den Gottesdienst.

Streifen wir ihn über, werden wir sichtbar als „Darstellerinnen“ und „Darsteller“ des Christentums. Als Nachfolgerinnen und Nachfolger einer Tradition, die sich auf Jesus Christus zurückführt. Als Frauen und Männer der Kirche. Als Dienstgemeinschaft. Als Stellvertreterinnen und Stellvertreter. Für Kinder mitunter auch als schwarze Gespenster.

Pop Up Church sammelt auf der Straße Namen von Frauen, denen Gewalt angetan wurde. Am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen, 25.11.2019 in Hamburg. Bild: Thomas Hirsch-Hüffell

Wir wollten raus!

Pop Up Church arbeitet mit dem Talar als einem Kennzeichen des Christentums. Pop Up Church ist ein öffentliches kirchliches Aktionsformat, das aus dem Unbehagen von ein paar Vikarinnen und Vikaren in Ratzeburg entstanden ist. Es wurde uns irgendwie unbehaglich bei der Beobachtung, dass wir beruflich erschreckend wenig mit Menschen außerhalb des kirchlichen Nadelöhrs „Gemeinde“ zu tun haben.

Dabei liegen die religiösen Fragen quasi auf der Straße

  • Kommt nach dem Tod noch was?
  • Darf ich lieben, wen ich will?
  • Wenn es einen Gott gibt, warum lässt er dann zu, dass mein Onkel an Krebs stirbt?
  • Bin ich mehr als die Summe meiner Likes?

So ähnlich hat es jüngst eine Kampagne zum Religionsunterricht in der Nordkirche formuliert.

Wir wollten raus – raus aus der Komfort-Zone, rein in die Lern-Zone. Wir wollten Kirche an Orten aufp(l)oppen lassen, wo man sie sonst nicht vermutet: im Stadtpark oder im Café, in einer lebendigen Jukebox auf dem Weihnachtsmarkt an der Krippe, auf dem Jahrmarkt zwischen Zuckerwatte und Riesenrädern, am Jungfernstieg, auf dem Hamburg Pride und am Hauptbahnhof –

Kirche da, wo du bist.

Gekommen, um Konventionen zu brechen

Mittlerweile stellt die Pop Up Church ein Aktionsnetzwerk aus etwa 10 bis 15 Vikarinnen und Vikaren sowie Pastorinnen und Pastoren der Nordkirche dar, welches zum 1. September 2018 unter die Verantwortung des neu gegründeten Werks „Kirche im Dialog“ in Hamburg gestellt wurde.

Wir wollen Menschen mit den großen Motiven des Christentums neu in Berührung bringen, Konventionen brechen, öffentliches Interesse für Christentum und Kirche erzeugen, persönlich für die Sache einstehen, uns greifbar machen und angreifbar. Wir wollen gesellschaftliche Themen religiös profilieren und religiöse Themen gesellschaftlich plausibilisieren.

Wozu sollen wir beten?

Und da gibt es aus unserer Sicht alle Hände voll zu tun:

  • Was ist Pfingsten und warum haben wir dafür einen Feiertag?
  • Was ist Christi Himmelfahrt mehr als Vatertag im geschlechtergerechten Ausgleich zum Muttertag?
  • Was ist Buße?
  • Wozu sollen wir beten?
  • Ist Glauben ebenso wichtig wie Wissen? Wenn ja, warum?
Zwei Vikarinnen / Pastorinnen von Pop Up Church bitten einen Passanten Vornamen von Frauen aufzuschreiben, die Gewalt erfahren haben. Am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen, 25.11.2019 in Hamburg. Bild: Thomas Hirsch-Hüffell

Pastor*innen machen Aktionskunst

Das verändert die Rolle von uns Pastorinnen und Pastoren. Wir sind in der Öffentlichkeit nicht mehr nur als Standardanbieterinnen und Standardanbieter gefragt, sondern als Aktionskünstlerinnen und Aktionskünstler. Wir fühlen uns aufgerufen, zusammen kreativ zu werden und Bestehendes zu hinterfragen oder zu ergänzen. Christi Himmelfahrt wird ja nicht dadurch öffentlich, dass wir draußen in der Öffentlichkeit einen Gottesdienst feiern. Dazu braucht es Übersetzungen:

Sag mir in einem Satz, warum sich das zu feiern lohnt.

Das ist knifflig. Da wird Theologie elementar.

Tagebuch vom Hamburger Hauptbahnhof, 25. November 2019

Was wir erleben, berührt uns. Ein einziges Beispiel soll an dieser Stelle genügen. Es ist ein geistliches Tagebuch vom Hamburger Hauptbahnhof, datiert auf den 25. November 2019, 17 bis 19 Uhr.

Es ist der internationale Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Da statistisch gesehen jede 4. Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Partnerschaftsgewalt erlebt, tragen wir Schilder, auf denen nach Genesis 16,13 „Du siehst mich!?“ und „Jede 4. Frau“ steht und bitten die Passantinnen und Passanten Vornamen von Frauen aufzuschreiben, die Gewalt erfahren haben.

Wir sammeln sie an unseren Körpern auf großen Plakaten und tragen sie danach in den Gottesdienst im Stadtteil St. Georg, wo dieser Gottesdienst eine lange Tradition aufweist. Meine Kolleginnen und Kollegen haben Splitter dieser Begegnungen festgehalten (danke insbesondere an Vikarin Verena Fitz!).

Gottes starke Töchter

Ein geistliches Tagebuch vom Hamburger Hauptbahnhof

Ich spreche mit einem Afrikaner. Er sagt: Auf Englisch bitte. Ich erkläre, krame nach Vokabeln. Er sagt: Gestern, meine Schwester, ihre Kinder, in Nigeria, ein Mann aus dem Haus, zusammen mit anderen jungen Männern. Er sagt, er ist verzweifelt, was kann er tun. Mir wird schlecht, er schreibt ihren Namen auf. Ihr Name ist Precious = Wertvoll.

Hektisches Treiben. Feierabend, endlich nach Hause. Wir sprechen einen Mann an. Breitschultrig, groß und selbstbewusst. Er hört uns interessiert zu, geht aber weiter. Ob er auch Frauen kennt, die Opfer von Gewalt geworden sind. Ja, sagt er, ich kenne mehrere. Ich denke: Einer, der zu uns steht. Er aber lacht und sagt: Aber denen gefällt das ganz gut.

Wir unterhalten uns mit einer Frau. Sie interessiert sich für die Schilder, die wir tragen. Was macht ihr? Wir erklären ihr, was wir vorhaben – fragen sie, ob sie auch eine Frau kenne. Ihr Gesicht verzerrt sich, der Blick richtet sich nicht mehr auf uns. Sie schüttelt stumm den Kopf und geht weiter.

Wir sprechen eine Gruppe junger Männer an. Zunächst nicht sicher, ob sie sich auf das Thema einlassen wollen. Wir erklären, was wir machen: Namen sammeln von Frauen, die Gewalt erfahren haben, dass wir ihnen eine Stimme geben wollen, dass sie nicht vergessen werden. Ja klar, da kennen wir doch alle jemanden. Der eine stößt seinen Nachbarn an, mit der Aufforderung ihm zuzustimmen. Ja klar, sagt der: Meine Mutter, meine Schwester.

Wir sprechen mit einer jungen Frau. Wir fragen sie: Vielleicht fällt dir ja jemand ein? Eine Frau, die Gewalt erlebt hat? Aus ihrem Freundeskreis oder aus der Familie? Sie zögert kurz und sagt: Ja, dann schreibe ich meinen eigenen Namen auf. Bestimmt greift sie zum Stift. Wir schlucken.

Eine Frau kam auf uns zu, gezielt, sagte: „Seid ihr von der Pop Up Church? Ich kann nicht zum Gottesdienst kommen, aber den Namen wollte ich wenigstens aufschreiben.“ Sie schrieb und ging sofort wieder weg.

Eine Frau, sie war zuvor bei uns auf dem Vorplatz gewesen, kommt noch einmal aus dem Bahnhof zurück. Sie möchte noch einen Namen dazuschreiben.

Wir begegnen einer älteren Frau. Sie ist eine von den wenigen, die es heute nicht extrem eilig haben. Als wir sie ansprechen, hält sie an. Sie hört uns zu: Ja, da kenn ich jemanden. Mir ging es jahrelang so. Ich hab es nicht verstanden. Zum Glück ist es jetzt vorbei. Zum Glück.

Du, Gott, kennst alle Namen – tausend und abertausend auf der ganzen Welt. Wir bitten dich: Heile, was zerbrochen ist. Amen.

Auf den Schildern von Pop Up Church steht nach Genesis 16,13 „Du siehst mich!?“ und „Jede 4. Frau“. Am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen, 25.11.2019 in Hamburg. Bild: Thomas Hirsch-Hüffell