Mehr Taufen in Frankreich, steigender Kirchgang in England?
Interview
Dr. Edgar Wunder ist Religionssoziologe und arbeitet im Referat für Strategische Planung und Wissensmanagement des Kirchenamts der EKD in Hannover. Im Gespräch mit midi ordnet er die Studie der Bible Society zum "Quiet Revival" in England und Berichte zu steigenden Taufzahlen in Frankreich ein.
Herr Dr. Wunder, in den letzten Monaten wurde darüber berichtet, dass in Frankreich die Taufzahlen steigen und in England der Kirchgang wieder zunehme. Manche deuten das als eine „Trendumkehr“. Was halten Sie davon?
Wunder: Eine nachhaltige Zuversicht in die Kirchenentwicklung lässt sich nur gewinnen, wenn wir solche Meldungen sorgfältig kritisch prüfen und nicht einfach aufgrund von Zeitungsmeldungen für bare Münze nehmen. Denn oft platzen solche Narrative wie Seifenblasen, wenn man genauer hinsieht. So ist es auch hier. Wenn solche Hoffnungen enttäuscht werden, richtet das am Ende mehr Schaden an, als wenn man von Anfang an kritisch abgewogen hätte.
Beginnen wir mit den Taufzahlen in Frankreich. Wie ist das einzuschätzen?
Wunder: Die in vielen Pressemeldungen aufgegriffene Erzählung geht so, dass in Frankreich die Zahl der Erwachsentaufen deutlich – auf etwa 18.000 pro Jahr – gestiegen sei, vor allem auf junge Erwachsene zurückgehend. Ein Blick in die Originalquellen zeigt: So sicher, wie es auf den ersten Blick scheint, sind die Zahlen nicht. Sie beruhen auf Hochrechnungen kleiner Stichproben aus einzelnen Diözesen, die auf ganz Frankreich übertragen wurden. Zudem hat sich im Laufe der Jahre verändert, welche Diözesen in die Berechnung eingeflossen sind. Deshalb besteht hier eine Gefahr von Verzerrungen.
Dennoch gehe ich davon aus, dass der grundsätzliche Trend einer Zunahme der Zahl von Erwachsenentaufen real ist. Bei gleichbleibender Taufquote ist ein solcher Anstieg zu erwarten. Entscheidend ist jedoch der Kontext: In Frankreich ist die Praxis der Säuglings- und Kindertaufe in den vergangenen Jahren dramatisch zurückgegangen, während sie in Deutschland bislang vergleichsweise stabil geblieben ist. Zur Einordnung zwei Zahlen: In der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen liegt der Anteil der Konfessionslosen in Frankreich heute bei 76 % (ISSP 2023), in Deutschland bei 40 % (KMU6). Das bedeutet: Die Zahl der ungetauften jungen Erwachsenen – also derjenigen, die überhaupt für eine Taufe infrage kommen – ist in Frankreich stark gestiegen. Rein rechnerisch führt das bei gleichbleibender Taufquote zwangsläufig zu mehr Erwachsenentaufen.
Für die Entwicklung der Kirche entscheidend ist jedoch nicht die absolute Zahl der Taufen, sondern die Taufquote. Diese wird bezeichnenderweise in all diesen Presseartikeln niemals mitgeteilt, denn damit wäre die schöne Geschichte dekonstruiert. Worauf es wirklich ankommt, ist: Wie viel Prozent der heute z.B. 24-Jährigen wurden im Verlauf ihres bisherigen Lebens getauft (egal ob als Kind oder als junge Erwachsene), sind also prinzipiell Kirchenmitglieder? Stellt man diese Frage, so schneidet Deutschland wesentlich besser ab als Frankreich. Denn die angenommenen 18.000 französischen Erwachsentaufen (in Relation zur Einwohnerzahl Frankreichs von 68,5 Millionen!) sind ganz weit davon entfernt, die dramatischen Einbrüche bei der Taufbereitschaft für Kinder irgendwie kompensieren zu können. Im Ergebnis: Die Kirche ist in Frankreich in einer weit schwierigeren Lage als in Deutschland, was Taufen und die Reproduktionsfähigkeit ihrer Mitgliederbasis betrifft. Das wird durch solche Pressemeldungen völlig verschleiert und ins Gegenteil verkehrt. Ein Beispiel, wie Statistik in die Irre führen kann, wenn relevante Kontextinformationen weggelassen werden.
Andere Berichte sagen, der Kirchgang in England habe zugenommen.
Wunder: Das geht auf eine im Frühjahr veröffentlichte, von der Bible Society in Auftrag gegebene Befragung zurück, deren Ergebnis es war, dass der mindestens monatliche Kirchgang von 8 % im Jahr 2018 auf 12 % im Jahr 2024 zugenommen habe. Der Anstieg sei vor allem auf junge männliche Erwachsene zurückzuführen. Die Studie nahm für sich in Anspruch, repräsentiv zu sein. Das Problem ist jedoch, dass die Studie nicht als repräsentativ gelten kann, weil sie in einem zentralen Punkt von den methodischen Standards repräsentativer Studien abweicht: Die Studienteilnehmenden konnten sich selbst initiativ dafür bewerben, sie waren nicht wirklich zufällig-repräsentativ ausgewählt.
Auf diese Weise kann es zu erheblichen Verzerrungen in den Daten kommen, die nicht einfach zu kontrollieren sind. Entscheidend ist also, was methodisch sorgfältig abgesicherte andere Erhebungen zutage bringen, die diese mögliche Fehlerquelle vermieden haben und was die tatsächlichen Zählungen der größeren christlichen Konfessionsgemeinschaften zu Gottesdienstbesuchen ergeben haben. Sie zeigen für den gleichen Zeitraum (2018-2024) durchgehend eine Abnahme des Kirchgangs in England. Es spricht deshalb alles dafür, dass es sich bei dem abweichenden Einzelbefund der Bible Society um ein methodisches Artefakt handelt, also einen fehlerhaften Wert aufgrund einer mangelhaften Erhebungstechnik. In anderen Quellen gibt es durchgehend keinen Anhaltspunkt für einen steigenden Kirchgang in England. Ganz im Gegenteil: Wie in Deutschland hat er auch dort eine abnehmende Tendenz.
Sie waren der Koordinator der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) und sind heute im Referat für Strategische Planung des Kirchenamts der EKD tätig. Die KMU hat ja recht ernüchternde Befunde zur Entwicklung von Kirchlichkeit und Religiosität in Deutschland erbracht. Wie ordnet sich das im internationalen Vergleich ein?
Wunder: Die kürzlich veröffentlichte PEW-Studie hat untersucht, wie sich die Mitgliederzahlen von Religionsgemeinschaften weltweit zwischen 2010 und 2020 entwickelt haben. Dabei zeigt sich: Der Anteil der Christinnen und Christen ist global um zwei Prozentpunkte zurückgegangen – von 31 % auf 29 %. Gleichzeitig ist der Anteil der Konfessionslosen auf 24 % gestiegen. Und: In keinem Land der Welt ist der Anteil der Konfessionslosen – innerhalb der angenommenen Fehlertoleranz – zurückgegangen. Der Anteil der Musliminnen und Muslime ist weltweit von 24 % auf 26 % gestiegen. Schätzungen zufolge wird er im Jahr 2030 erstmals den globalen Anteil der Christinnen und Christen übertreffen. Dieser Anstieg liegt jedoch nicht an – kaum stattfindenden – Übertritten zum Islam, sondern an einem rein demografischen Effekt: In vielen muslimisch geprägten Ländern ist die Geburtenrate nach wie vor höher als im weltweiten Durchschnitt. Diese Differenz nimmt jedoch tendenziell ab. In den 2030er Jahren werden wir deshalb in eine Situation kommen, in der die globalen Anteile von Konfessionslosen, Muslimen und Christen ziemlich genau gleich hoch sein werden.
Man hört immer wieder, Europa oder zumindest „der Westen“ sei ein Sonderfall und die Säkularisierung nur dort zu beobachten. Stimmt das?
Wunder: Das habe ich vor 20 Jahren auch noch geglaubt, heute ist es empirisch nicht mehr zu halten. Die heutigen Daten zeigen ganz klar, dass Säkularisierung ein global stattfindender Prozess ist, auf allen Kontinenten, nicht nur in Europa. „Sonderfälle“ sind eher die arabischsprachigen Länder und das subsaharische Afrika, weil nur dort der Säkularisierungsprozess überwiegend noch in einem Anfangsstadium steht, jedoch auch hier – bei religiösem Partizipationsverhalten – sicher nachweisbar ist, wie eine im August veröffentlichte, global vergleichende Studie von Jörg Stolz gezeigt hat.
Gibt es auch Gegenbewegungen?
Wunder: Es hat nie jemand behauptet, dass Säkularisierungsprozesse linear seien, was schon allein deshalb ein absurder Gedanke wäre, weil Modernisierungsprozesse generell nicht linear verlaufen, sondern stets mit Widersprüchen verbunden sind. Wir sollten Säkularisierung auch nicht als reine „Verlusterzählung“ begreifen. Denn hinter den quantitativen Zahlen steht auch ein gravierender qualitativer Wandel der sozialen Gestalt von Religionsgemeinschaften, der viele Chancen bietet.
Was ist Ihr persönliches Fazit?
Wunder: Hoffnung in die zukünftige Entwicklung der Kirche ist begründet, weil sie vielfältig aufgestellt ist und in den letzten 2000 Jahren immer wieder die Fähigkeit bewiesen hat, sich an veränderte gesellschaftliche Konstellationen erfolgreich anzupassen. Sie wird ihre Gestalt verändern und Menschen weiterhin viel zu bieten haben. An dieser neuen Gestalt sollten wir arbeiten und haben dabei auch weiterhin viele Möglichkeiten. Aber sich an einzelne Zahlen zu klammern, die eine vermeintliche „Umkehr“ massiver globaler Trends suggerieren, die sich aber bei genauerer Betrachtung wie eine Fata Morgana in Nichts auflösen, ist nicht besonders sinnvoll.
Vielen Dank für das Gespräch.