Kleiner, langsamer, näher

Von Dr. Klaus Douglass

Auch wenn man vorsichtig sein muss, der Corona-Pandemie eine allzu platte religiöse Deutung abzugewinnen, scheint mir doch deutlich, dass die in unserer Gesellschaft weitverbreitete Philosophie des „Größer, schneller, weiter“ in den letzten beiden Jahren erheblich ins Stolpern geraten ist. Sodass ich fast versucht bin zu sagen, dass diese Zeit uns herausfordert, uns eher aufs Gegenteil zu konzentrieren. So habe ich es denn für 2022 als Jahresmotto für midi formuliert: Kleiner, langsamer, näher.

Wer mich kennt, weiß, dass diese Formel nicht unbedingt meinem Naturell entspricht. Ich liebe große Veranstaltungen: Rockkonzerte, Sportevents – und gerne auch gut besuchte Gottesdienste. Außerdem liebe ich Tempo. Ich nehme regelmäßig Reißaus, wenn es bei Kirchens allzu bedächtig, allzu „bewusst“ und allzu phlegmatisch zugeht.

Es mag ein charakterliches Defizit sein, dass mir in der Kirche oft langweilig wird. Aber ich glaube, ich bin damit nicht ganz alleine.

Außerdem liebe ich die Weite. Im Hotel wähle ich gerne ein Zimmer mit Ausblick, mag große Fenster und hasse es, wenn es in irgendeiner Weise zu eng wird. So mache ich einen weiten Bogen um engstirnige Meinungen, zu sehr „kuschelnde“ Gemeinschaften und übergriffige Näheangebote.

Das Motto „Kleiner, langsamer, näher“ ist mir also nicht gerade in die Wiege gelegt. Und dennoch scheint mir, dass Gott uns in diesen Zeiten, in denen das Motto „Größer, schneller, weiter“ an seine Grenzen kommt, ermutigt, uns nicht allzu sehr gegen diese Entwicklung zu stemmen. „Go with the flow“ würde man das auf Neudeutsch ausdrücken: Spüre dem nach, wo und wie die Energie gerade fließt und arbeite nicht gegen sie an, sondern mit ihr.

Kleiner

Konzentrieren wir uns also auf das uns derzeit vielfach verordnete Kleine. Ich weiß: „Klein“ an sich ist noch kein Qualitätsmerkmal. Manche Dinge sind „klein, aber fein“. Anderes hingegen ist klein im Sinne von mickrig, weil es das eigene Potenzial nicht wahrnimmt. Das Gute an kleinen Settings ist, dass man da sehr viel persönlicher, sehr viel verbindlicher und sehr viel „passgenauer“ arbeiten kann als in großen. Sich auf diese Potenziale des Kleinen zu konzentrieren und sie zu fördern, scheint mir das Gebot der Stunde zu sein. Wenn wir das tun, wird auch dieses Kleine auf Dauer (wieder) wachsen. Denken Sie nur an die Gleichnisse Jesu vom Senfkorn oder vom Sauerteig (Matthäus 13).

Langsamer

Auch der Tatsache, dass viele Prozesse heute zwangsläufig langsamer ablaufen müssen als in nicht-pandemischen Zeiten, lässt sich einiges Positives abgewinnen. Wenn uns die derzeit auferlegte allgemeine Entschleunigung dazu (ver)führt, lahmer, träger, müder und veränderungsunwilliger zu werden, haben wir die Zeichen der Zeit falsch gedeutet.

Wenn irgendetwas deutlich wird in dieser Pandemie, dann dies, dass es nicht mehr so weitergehen wird wie vorher.

Wir müssen an der Art und Weise, wie wir Kirche leben, etwas grundlegend ändern. Aber solche Prozesse brauchen Zeit. Menschen überschätzen oft, was sie kurzfristig erreichen können, und unterschätzen, was sie langfristig erreichen können. Gut Ding will Weile haben. Darum geht es: kleine Schritte der Veränderung sofort einzuleiten, diese aber für einen langen Zeitraum konsequent durchzuhalten.

Näher

Und schließlich: näher. Irgendwie scheint mir das der Schlüssel zu allem anderen zu sein. In der Zeit, als wir gezwungen waren, Abstand zu halten, wurde vielen Menschen zuallererst bewusst, wie wichtig ihnen Nähe ist. Das wäre die große Kunst, die wir als Kirche zu lernen haben: den Menschen Nähe anzubieten und Nähe zu vermitteln, ohne ihnen zu nahe zu treten. Zum einen die Nähe Gottes, zum anderen aber auch ganz konkrete menschliche Nähe.

Nähe statt Abstand, Augenhöhe statt Reden von oben herab, Dialog statt Proklamationen.

Und alles in allem: mehr Beziehungen, weniger Veranstaltungen. (Wobei beides durchaus miteinander Hand in Hand gehen kann.) Wäre das nicht traumhaft, wenn wir uns als Kirche und Diakonie stärker in diese Richtung entwickeln würden?

Übrigens

Im midi-Team war das Motto „Kleiner, langsamer, näher“ durchaus umstritten. Der Widerspruch entzündete sich dabei nicht so sehr an den hier skizzierten Inhalten, sondern an der Formulierung. Ein Motto, das man derart differenziert erklären muss, wie ich es eben getan habe („klein/langsam/nahe – aber nicht im Sinne von…, sondern…“), ist wahrscheinlich kein besonders gutes. „Konzentrierter, achtsamer, persönlicher“ würde das Gemeinte wahrscheinlich besser treffen. Damit könnte ich gut leben. Auch wenn die Gegenthese zu „Größer, schneller, weiter“ nicht mehr ganz offensichtlich wäre.

Egal, wie wir es formulieren: Hauptsache, wir bewegen uns in diese Richtung. Vielleicht reden Sie einmal mit Ihren Leuten vor Ort darüber.