Junge Erwachsene in einer fragmentierten Welt
Einleitung
Sie sind zwischen Krisen aufgewachsen: Die heute 18- bis 29-Jährigen gehören einer Generation an, die nicht nur durch die digitale Transformation sozialisiert wurde, sondern auch durch globale Unsicherheiten, Klimakrise, Pandemie und einen weitreichenden Vertrauensverlust gegenüber politischen, wirtschaftlichen und religiösen Institutionen. Ihre Biografien sind vielfach von Beschleunigung und Unsicherheit, aber auch von einer neuen Form der Selbstsuche geprägt. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Was trägt mich in Momenten der Erschütterung?
Diese Fragen führen viele junge Erwachsene an die Ränder der klassischen religiösen Angebote. Die EKD-Mitgliedertypologie zeigt, dass es unter jungen Menschen eine wachsende Distanz zur Kirche als Institution gibt, und dennoch gleichzeitig auch ein fortbestehendes Interesse an existenziellen Themen wie Sinn, Hoffnung, Gemeinschaft und Kontingenzbewältigung. Die Polarisierung zwischen religiös Verbundenen und gleichgültig Distanzierten verschärft sich. Zugleich entstehen neue Suchbewegungen, nicht unbedingt auf der Kanzel oder im Gemeindesaal, sondern auf TikTok, in stillen Naturerfahrungen oder in Gesprächen unter Freund*innen nach dem Tod eines nahestehenden Menschen.
Dieser Essay versucht, ein vielschichtiges Verständnis für die religiöse Lage junger Menschen zu entwickeln, nicht in Form einfacher Antworten, sondern als differenziertes Tableau aus Sehnsüchten, Abbrüchen, digitalen Formaten, Transzendenzerfahrungen und gesellschaftlichen Herausforderungen.
Dazu werden zunächst empirische Befunde systematisch entfaltet. Anschließend werden diese theoretisch eingeordnet, um schließlich Perspektiven für kirchliches Handeln, theologische Reflexion und gesellschaftliche Verantwortung zu entwickeln. Zugrunde liegt die Ausgangsthese, dass die religiöse Leerstelle vieler junger Erwachsener nicht das Ende ist, sondern der Anfang einer neuen Suchbewegung.
Die empirische Lage: Wie ticken junge evangelische Erwachsene?
Die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung und die im Anschluss daran entstandene EKD-Mitgliedertypologie bieten ein differenziertes Bild der religiösen Orientierungen, Einstellungen und Erwartungen innerhalb der evangelischen Kirche. Für die Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen lassen sich dabei folgende zentrale Befunde festhalten.
Gottesvorstellungen: Die Aussagen zur Gottesvorstellung zeigen eine auffällige Pluralisierung und Relativierung traditioneller Glaubensinhalte. 19 % glauben, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat, 39 % glauben an ein höheres Wesen oder eine geistige Macht, 25 % wissen nicht, was sie glauben sollen und 16 % glauben nicht an Gott oder eine geistige Macht.
27 % glauben an Gott und haben immer an ihn geglaubt, 9 % glauben heute an Gott, taten dies früher jedoch nicht, 23 % glauben heute nicht, glaubten aber früher und 21 % haben nie geglaubt. 20 % geben an, dass sie dazu keine Aussage treffen können.
Gebet und Bibel: Nur 15 % der 18- bis 29-Jährigen geben an, „täglich/wöchentlich“ zu beten, 26 % „monatlich/mehrmals jährlich“, während 59 % „selten oder nie“ beten.
Kasualien: Besonders relevant für junge Erwachsene sind Übergangsriten. Während die Konfirmation von vielen noch mitvollzogen wurde, verliert die kirchliche Trauung oder Bestattung an Relevanz. Gleichzeitig steigen die Ansprüche an Individualisierung.
Kirchenaustritt: Die Austrittsgründe liegen vor allem in fehlender persönlicher Bindung, Enttäuschung über kirchliches Handeln und in finanziellen Gründen.
Engagement: Zwar ist das Engagement in klassischer Gemeindearbeit gering, jedoch zeigen viele junge Erwachsene Interesse an punktuellem, sinnbezogenem Engagement, etwa bei Klimaaktionen, sozialen Projekten oder diakonischen Aufgaben.
Vertrauen in Institutionen: Die Kirche rangiert im Vertrauen deutlich hinter Wissenschaft, Gesundheitswesen und Bildung, liegt aber noch vor Parteien oder Medien. Vertrauen wird stark mit Transparenz und Authentizität verknüpft.
Diese empirischen Befunde skizzieren eine junge Generation, die in großen Teilen distanziert, aber nicht desinteressiert ist. Der Glaube ist biografisch oft unterbrochen, brüchig oder verschoben und genau darin liegt eine theologische und pastorale Herausforderung.
Tiefenstrukturen junger Erwachsener
Die biografische Ambivalenz: Viele junge Erwachsene lassen sich als religiös „ambivalent Sozialisierte“ beschreiben. Die Erfahrungen aus Kindheit und Jugend sind nicht durchgängig negativ, aber oft brüchig, widersprüchlich, aber auch schlicht irrelevant geworden. Kirche wird häufig als ein Ort erinnert, der „da war“, aber keine bleibende Bedeutung entfaltet hat.
Sinnsuche ohne Zielrichtung: Junge Menschen sind hochgradig sinnsensibel, aber ohne klare Zielrichtung. Die Suchbewegung äußert sich eher in diffusen Sehnsüchten, ästhetischen Erfahrungen oder Beziehungsfragen als in dogmatischen Begriffen. Spiritualität finde oft „zwischen den Zeilen“ statt.
Sehnsucht nach Verlässlichkeit: Trotz aller Dynamik suchen viele junge Menschen nach Resonanz und Halt. Besonders in Übergangssituationen, beispielsweise wenn Auszug, Studium, Beziehung oder Verlusterfahrungen anstehen. Dann wächst das Bedürfnis nach Symbolen, Ritualen und Deutungen. Kirche ist genau dann gefragt, aber oft nicht präsent oder nicht anschlussfähig.
Die Bedeutung des Digitalen: Die religiöse Suchbewegungen haben sich bei jungen Erwachsenen ins Digitale verlagert. Junge Menschen finden auf Instagram, YouTube oder Podcasts Glaubensimpulse, häufig ohne institutionelle Anbindung. Der digitale Raum wird zu einem „quasi-religiösen Experimentierfeld“.
Nicht-Kirchlichkeit als biografische Normalität: Für viele junge Menschen ist Nicht-Kirchlichkeit kein Bruch, sondern der Normalfall. Daraus ergibt sich keine Feindschaft, sondern Indifferenz. Die Herausforderung liegt nicht in der Rückgewinnung, sondern in der „gastfreundlichen Irritation“ durch Angebote, die Sinn eröffnen. Junge Erwachsene sind weder verloren noch gleichgültig. Sie sind religiös anders unterwegs, fragmentarisch, tastend, manchmal widersprüchlich. Kirche braucht ein Sensorium für diese Zwischentöne.
Säkularisierung und neue Transzendenzen: Theoretische Deutungsmuster
Um die empirisch gewonnenen Einsichten der religiösen Lage junger Erwachsener zu vertiefen, ist ein Blick auf theoretische Deutungsmuster erforderlich, die den Wandel von Religiosität in modernen Gesellschaften verstehbar machen. Besonders aufschlussreich ist hierbei das Konzept der Transzendenzformen des Religionssoziologen Thomas Luckmann, ergänzt durch aktuelle Analysen von Jan Loffeld.
Luckmann unterscheidet drei Ebenen von Transzendenz. Kleine Transzendenzen, die das unmittelbare Überschreiten des Alltags betreffen, beispielsweise in Momenten der Musik, in der Natur, in zwischenmenschlichen Begegnungen oder in digitalen Resonanzräumen. Gerade unter jungen Erwachsenen zeigt sich eine hohe Dichte solcher Mikrotranszendenzen, die nicht religiös gerahmt, aber subjektiv bedeutsam sind. Mittlere Transzendenzen betreffen biografische oder soziale Brücken, beispielsweise den Aufbruch aus Milieus, das Abstoßen tradierter Werte oder die Suche nach alternativen Lebensformen. Die hohe Dynamik in Familien-, Bildungs- und Beziehungskontexten der 18- bis 29-Jährigen spiegelt solche mittleren Transzendenzbewegungen wider. Große Transzendenzen zielen auf metaphysische Sinngebäude, Weltdeutungen, Gottesvorstellungen. Hier zeigt sich in der 6. KMU und der EKD-Mitgliedertypologie ein massiver Plausibilitätsverlust. Nur eine Minderheit glaubt an den personalen Gott der christlichen Tradition. Die große Transzendenz scheint für viele eine Leerstelle geworden zu sein.
Luckmanns Modell hilft, diese Leerstelle nicht als Defizit zu deuten, sondern als Ausdruck eines Umbaus. Transzendenzerfahrungen wandern in den Alltag, die Religionsfähigkeit zeigt sich in anderen Formen als früher. Gerade junge Erwachsene sind oft kompetente Sinnproduzenten, die aus dem Patchwork ihrer Erfahrungen eigene Deutungsmuster entwickeln.
Jan Loffeld unterscheidet in Anschluss an seine Studien zur Post-Säkularität verschiedene Religions- und Weltbezugstypen. Der Resonanztyp ist religiös sensibel, aber nicht unbedingt kirchlich gebunden. Er sucht Erfahrungen von Berührung und Tiefe, z. B. in Ritualen, Gesprächen oder Musik. Der Traditionstyp lebt aus Überliefertem, meist ohne große Reflexion. Der Ermächtigungstyp nutzt Religion funktional, etwa zur Selbstoptimierung oder Krisenbewältigung. Der Indifferenztyp lebt weitgehend ohne religiöse Fragen oder Bezugspunkte.
Beide Modelle legen nahe, dass es neue hermeneutische Zugänge zur Religiosität junger Erwachsener braucht. Weder Säkularisierung noch individualisierte Spiritualität allein erklären die Lage. Vielmehr entsteht ein komplexer Raum zwischen Bedeutungsverlust und Sinnsuche, zwischen Abkehr und Neuorientierung. Theologie und kirchliche Praxis sind herausgefordert, diese Zwischenräume ernst zu nehmen, nicht moralisierend, sondern verstehend.
Impulse für kirchliches Handeln – jenseits der Parochie
Die vorangegangenen Analysen zeigen deutlich, dass die religiöse Lage junger Erwachsener von einer tiefgreifenden Pluralisierung, Individualisierung und Fragmentierung geprägt ist. Gleichzeitig eröffnen sich neue Suchbewegungen und spirituelle Potenziale, allerdings jenseits traditioneller parochialer Strukturen. Daraus ergeben sich mehrere Konsequenzen für das kirchliche Handeln.
Kirchliche Räume als Resonanzräume denken
Kirchliche Orte müssen nicht primär „Zentren der Verkündigung“ sein, sondern können Resonanzräume werden. Räume, in denen junge Menschen sich mit ihren Fragen, Sehnsüchten und Brüchen wiederfinden. Das bedeutet auch, Gestaltungsspielräume zu öffnen, die nicht voraussetzungsreich sind. Weniger Programm, mehr Beziehung. Weniger Lehre, mehr Erfahrung. Weniger Erwartung, mehr Gastfreundschaft.
Spirituelle Alphabetisierung fördern
Viele junge Menschen verfügen nicht mehr über ein religiöses Vokabular. Die Kirche kann hier eine Form der „spirituellen Alphabetisierung“ leisten, nicht durch Belehrung, sondern durch Ermöglichung von Sprach- und Erfahrungsräumen. Beispielsweise durch meditative Angebote, „sinnfluente“ Formate in Social Media oder das Erzählen von Deutungsmöglichkeiten bei Lebensumbrüchen.
Transzendenzerfahrungen sichtbar machen
Der „Erfahrungshorizont Transzendenz“ ist nicht verschwunden, er ist nur nicht mehr selbstverständlich religiös konnotiert. Kirche kann diese Erfahrungen benennen, vertiefen und deuten. Sei es in Kasualgesprächen, in spirituellen Naturformaten oder im Kontext von Musik, Stille und biografischer Reflexion.
Kirchliche Orte hybrid und fluide denken
Die klassische Gemeinde ist nicht mehr die primäre Bezugsgröße für viele junge Erwachsene. Kirchliches Handeln muss sich daher flexibler, digitaler und ortsunabhängiger entfalten. Sei es durch hybride Angebote, Pop-Up-Gemeinden, digitale Seelsorge, Peer-getragene Formate und spirituelle Hubs in urbanen wie ländlichen Räumen. Hier gilt, dass Innovation nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Antwort auf biografische und kommunikative Wirklichkeiten zu verstehen ist.
Teilhabe ermöglichen statt Mitgliedschaft fordern
Viele junge Erwachsene suchen nicht nach festen Bindungen, sondern nach punktueller Teilhabe. Teilhabe kann eine Brücke zur Kirche sein, wenn sie niedrigschwellig, dialogisch und ernstgemeint ist. Die Frage ist nicht: „Wie machen wir junge Menschen zu Mitgliedern?“, sondern „Wie können wir sie an dem teilhaben lassen, was für sie und uns gemeinsam bedeutsam ist?“ Diese Impulse bedeuten keine Preisgabe kirchlicher Identität, sondern deren kontextuelle Entfaltung. Sie nehmen die existenziellen Themen der jungen Generation ernst und führen Kirche dorthin zurück, wo sie für viele heute fremd geworden ist: Mitten ins Leben, in seine Übergänge, Brüche und Sehnsüchte hinein.
Hoffnung, Zweifel und geistliche Deutung heute
Junge Erwachsene begegnen der Welt oft mit einem Paradox. Zum einem mit tiefem Zweifel und zum anderen mit einem tastenden Hoffen. Theologie, die sich mit dieser Generation verbinden will, muss diese Spannung aushalten und produktiv machen. Dabei sind drei Dimensionen zentral.
Der Zweifel als Ort der Gottesbegegnung
Die Bibel kennt den Zweifel nicht als Feind des Glaubens, sondern als dessen Begleiter. Thomas Halík spricht vom Zweifel als "Nachtseite des Glaubens", eine Erfahrung, die viele junge Erwachsene teilen. Der Zweifel verdient daher nicht Überwindung, sondern Anerkennung als Ort der Suche. Theologische Sprache muss Raum geben für Uneindeutigkeit, Ambivalenz und vorläufige Antworten.
Hoffnung als konkrete Utopie
Inmitten der Erfahrungen von Unsicherheit, Verlust und globaler Krisen braucht es eine Rede von Hoffnung, die nicht naiv vertröstet, sondern widerständig bleibt. Jürgen Moltmanns Vorstellung von Hoffnung als "konkreter Utopie" bietet hier einen Resonanzraum. Hoffnung ist nicht Optimismus, sondern eine Verheißung, die aus der Zukunft Gottes lebt und junge Menschen darin bestärken kann, Wandel zu denken und zu leben.
Geistliche Deutung in säkularer Sprache
Viele junge Erwachsene sind religiös unmusikalisch, aber existenziell tief befragt. Theologie muss deshalb lernen, geistliche Deutungsmuster in einer säkular verständlichen Sprache zu formulieren, nicht dogmatisch, sondern poetisch, nicht belehrend, sondern dialogisch. Bilder, Narrative, Rituale und Fragen können hier Brücken schlagen: Was trägt dich? Wo findest du Trost? Was gibt dir Mut?
Die theologische Herausforderung besteht nicht darin, alte Antworten neu zu verpacken, sondern darin, neue Fragen als spirituelle Tiefenanzeiger ernst zu nehmen. Es geht nicht um Anpassung, sondern um Übersetzung. Nicht um Rückgewinnung, sondern um Begleitung. Nicht um Eindeutigkeit, sondern um Resonanz.
Gesellschaftliche Verantwortung und öffentliche Kirche
Die religiöse Lage der 18- bis 29-Jährigen ist nicht nur eine innerkirchliche Herausforderung, sondern ein Spiegel gesellschaftlicher Prozesse, wie Individualisierung, Polarisierung, Vertrauensverlust und die Suche nach neuer Sinnstiftung. Kirche steht hier nicht abseits, sie ist Teil des öffentlichen Raums und kann einen unverzichtbaren Beitrag leisten.
Kirche als Ermöglichungsraum für Engagement
Die empirischen Befunde zeigen, dass viele junge Erwachsene bereit sind, sich für gesellschaftliche Anliegen zu engagieren, besonders in den Bereichen soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Gleichberechtigung. Kirche kann hier als Plattform und Verstärkerin wirken, durch Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Initiativen, durch Räume für Aktivismus, durch das Einbringen theologischer Perspektiven in gesellschaftliche Diskurse.
Vertrauen durch Haltung
Vertrauen entsteht nicht durch Strategie, sondern durch Haltung. Die Kirche muss zeigen, dass sie sich der Welt nicht entzieht, sondern sich ihr aussetzt, beispielsweise in klarer Positionierung gegen Ausgrenzung und Populismus, in solidarischem Handeln mit Benachteiligten, in der Demut, eigene Fehler zu reflektieren. Junge Erwachsene nehmen genau wahr, wo Institutionen glaubwürdig sind und wo nicht.
Kirche als Suchgemeinschaft inmitten der Gesellschaft
Die Kirche der Zukunft ist weniger eine Volkskirche mit Vollversorgungsanspruch, sondern eine Suchgemeinschaft, die Menschen auf Zeit begleitet. Sie wird fluider, fragmentierter, aber auch näher an den biografischen Bruchstellen. Ihre öffentliche Relevanz erwächst nicht aus Macht, sondern aus Nähe zu den Fragen der Menschen, zu den Krisen der Zeit, zu den Hoffnungen einer neuen Generation.
Die „Suchgemeinschaft Kirche“ ist dabei nicht als Defizitraum zu verstehen, sondern als Raum wachsender Sensibilität für Uneindeutigkeit, für spirituelle Diversität, für ein neues Miteinander von Glaube und Zweifel. Es geht um die Bereitschaft, sich mit den Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen, nicht um sie zu beantworten, sondern um sie gemeinsam zu tragen.
Kirche als zivilgesellschaftliche Akteurin
Die Kirche ist Teil der demokratischen Kultur. In einer Zeit, in der demokratische Grundhaltungen brüchig werden, kann sie zur Vermittlerin werden zwischen Generationen, Milieus und Weltanschauungen. Ihre Fähigkeit zur Selbstkritik, zum Dialog und zur Gewissensbildung ist ein hohes Gut. Gerade junge Menschen nehmen solche Haltungen wahr und sie schätzen sie, wenn sie authentisch gelebt werden.
Religiöse Bildung als politische Bildung
Schließlich darf die Verbindung von religiöser und politischer Bildung nicht übersehen werden. Wer heute über Hoffnung, Gerechtigkeit und Schöpfungsverantwortung spricht, formuliert immer auch ein gesellschaftliches Gegenbild. Religiöse Sprache kann zum Resonanzraum für politische Handlungsfähigkeit werden, vorausgesetzt, sie bleibt anschlussfähig und dialogisch.
Die Kirche steht damit nicht am Rand, sondern mitten in der Frage, wie gesellschaftliche Zukunft gestaltet werden kann. Ihre Relevanz bemisst sich nicht an ihrer Größe, sondern an ihrer Haltung.
Ausblick: Die jungen Erwachsenen – eine prophetische Generation
Die religiösen Suchbewegungen junger Erwachsener fordern Kirche, Theologie und Gesellschaft auf radikale Weise heraus. Nicht in Form einer Bedrohung, sondern als Einladung zum Perspektivwechsel. Wer die Distanz junger Menschen zur Kirche als reines Defizit beschreibt, verfehlt ihre eigentliche Dynamik. Es handelt sich nicht um Gleichgültigkeit, sondern oft um einen anderen Zugang zu Fragen des Glaubens, der Gemeinschaft, der Weltverantwortung.
Kirche hat die Chance, sich als geistlicher Möglichkeitsraum zu verstehen, nicht nur als Anbieterin religiöser Dienstleistungen, sondern als Wegbegleiterin in einer Welt multipler Sinnordnungen. Dazu gehört auch der Mut, traditionelle Formate zu hinterfragen, sich auf neue Sprachspiele einzulassen und sich selbst als lernende Organisation zu begreifen.
Theologie wiederum ist gefordert, neue Erzählungen zu entwickeln, narrative Theologien der Hoffnung, des Zweifels, der Transformation. Sie muss anschlussfähig werden an biografische Brüche, gesellschaftliche Risse und digitale Ausdrucksformen.
Die Generation der 18- bis 29-Jährigen ist keine verlorene Generation für die Kirche. Sie ist eine prophetische Generation, die der Kirche zeigt, wie viel sich verändern muss, wenn das Evangelium gehört werden soll. Wer sich darauf einlässt, betritt nicht das Ende der Kirche, sondern den Anfang eines neuen Dialogs.
Es bleibt die Aufgabe, Räume zu schaffen, in denen Glaube nicht gelehrt, sondern geteilt wird. Wo Fragen wichtiger sind als Antworten. Wo Rituale neu befragt werden dürfen. Wo Transzendenz erfahrbar wird, manchmal im Gebet, manchmal im Protest, manchmal im ganz Anderen. Die Kirche der Zukunft entsteht dort, wo sie es wagt, sich von den Fragen der jungen Generation verwandeln zu lassen.