Hoffnung in der Zwischen-Zeit
Die Welt im Wartesaal
Wir leben in einer Zwischen-Zeit. Die Gewissheiten der Moderne wie Fortschritt, Rationalität, Säkularität, Planungssicherheit haben ihre Leuchtkraft eingebüßt. Gleichzeitig ist das Neue, das Zukünftige, noch nicht sichtbar oder benennbar genug, um Hoffnung im klassischen Sinne darauf zu projizieren. Zwischen dem „Nicht-mehr“ und dem „Noch-nicht“ spannt sich ein Zustand, der gesellschaftlich, kulturell und spirituell tiefgreifend verunsichert. Es ist, als säße unsere Gesellschaft im Wartesaal der Geschichte, ohne Fahrplan, aber in gespannter Erwartung.
Dieser Essay geht der Frage nach, welche Rolle Hoffnung in dieser Zwischen-Zeit spielen kann. Dabei wird Hoffnung nicht als emotionale Beruhigungsstrategie verstanden, sondern als theologisch, kulturell und politisch wirkmächtige Kategorie. Inmitten gesellschaftlicher Erschöpfung, apokalyptischer Rhetorik und Zukunftsverlusten braucht es eine Neudeutung von Hoffnung, die sich nicht aus Verdrängung, sondern aus dem beherzten Blick ins Offene speist.
Im Folgenden wird zunächst die gegenwärtige Zwischen-Zeit analysiert (I) und Hoffnung theologisch und soziologisch rekonstruiert (II). Anschließend werden eine Verortung gegenwärtiger Hoffnungsräume (III) sowie strategische Perspektiven für Kirche und Gesellschaft (IV) entfaltet.
I. Die Zwischen-Zeit verstehen – Diagnose einer Übergangsepoche
Keine Moderne mehr und auch noch keine neue Ordnung
Die Moderne war von einem tiefen Vertrauen in Fortschritt geprägt. Die Welt schien prinzipiell verstehbar, kontrollierbar, machbar. Rationalität, Wissenschaft, Technik und ökonomisches Wachstum galten als Hebel der Verbesserung. Die Idee der linearen Entwicklung, vom Schlechteren zum Besseren, formte politische Utopien, pädagogische Programme und das Selbstbild ganzer Generationen.
Doch seit einigen Jahrzehnten mehren sich die Signale, dass diese Werkzeuge stumpf geworden sind. Klimakrise, geopolitische Konflikte, digitale Kontrollverluste und soziale Fragmentierung haben das Fortschrittsnarrativ entzaubert. Was als „Modernisierung“ galt, erscheint heute oft als Entwurzelung, Beschleunigung oder Überforderung. Viele Gewissheiten der Moderne sind zu brüchigen Formeln geworden. Ihre Versprechen wirken leer oder doppeldeutig.
Gleichzeitig fehlt es an tragfähigen neuen Narrativen. Zwar gibt es Gegenbewegungen, etwa ökologische, spirituelle oder postkapitalistische Ansätze. Doch diese haben (noch) keine hegemoniale Kraft. Die Gegenwart bleibt uneindeutig. Die Moderne ist erschöpft, aber ihre Nachfolge ist nicht organisiert. Der Soziologe Bruno Latour spricht in diesem Kontext von einer „Neuverhandlung der Bedingungen der Welt“.1 Wir wissen, dass das Alte nicht mehr trägt, und zugleich wissen wir nicht, was das Neue sein wird. Genau diese epistemische Lücke kennzeichnet die Zwischen-Zeit.
Das phänomenologische Konstrukt der Spätmoderne
Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz beschreibt unsere Gegenwart als „Spätmoderne“.2 Eine Zeit, in der Individualisierung, Singularisierung und Selbstoptimierung zur gesellschaftlichen Normalität geworden sind. Doch statt Freiheit erleben viele Überforderung. Der Zwang zur Selbstverwirklichung erzeugt Erschöpfung, Vergleichsdruck und Abstiegsängste.3 Die Gesellschaft leidet unter einem „Verlust-Narrativ“: der Verlust von Sicherheit, Status, Vertrauen.4
Ähnlich diagnostiziert Byung-Chul Han eine „Müdigkeitsgesellschaft“5 , in der sich Menschen unter dem Druck ständiger Selbstleistung zermürben. Der Imperativ der Transparenz, die Beschleunigung der Kommunikation, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche führen zu innerer Leere und sozialer Kälte. Han spricht von einer „Transparenzgesellschaft ohne Barmherzigkeit“6 .
Hartmut Rosa wiederum entwickelt mit seinem Resonanzkonzept eine alternative Beschreibung. Resonanz ist gelingender Weltbezug, ein „Antwortverhältnis“ zwischen Subjekt und Welt.7 In einer entfremdeten Gesellschaft, die Rosa als „unverfügbar“ beschreibt,8 wird Hoffnung zur Fähigkeit, Resonanzräume (wieder) zu öffnen.
Alle diese Autoren beschreiben keine vollständige Apokalypse, wohl aber eine tiefgreifende Transformation. Ihre Diagnosen markieren die Konturen jener Zwischen-Zeit, in der die alten Antworten nicht mehr greifen und das Neue noch kein Gesicht hat.
Das institutionelle Vakuum – Vertrauenskrise und neue Suchbewegungen
Ein zentrales Kennzeichen der Zwischen-Zeit ist der Verlust institutionellen Vertrauens. Empirische Studien wie der Vertrauensindex von Allensbach, Forsa oder das „Hoffnungsbarometer“ zeigen seit Jahren einen kontinuierlichen Rückgang des Vertrauens in Politik, Medien, Kirche und Wirtschaft.
Insbesondere die Kirchen verlieren nicht nur Mitglieder, sondern auch ihre Funktion als kulturelle Deutungsinstanzen. Zwar bleibt die Sehnsucht nach Spiritualität, Gemeinschaft und Transzendenz bestehen. Sie verlagert sich jedoch in individuelle Praktiken oder alternative Angebote wie Achtsamkeit, Coaching, Esoterik, Sinnfluencer etc.
Diese Suchbewegungen deuten darauf hin, dass die Gegenwart kein rein säkulares Zeitalter ist. Vielmehr entsteht eine neue Konstellation in Form von fragmentierten Sinnsystemen, hybriden Spiritualitäten, lokalen Resonanzräumen. Hoffnung bleibt dabei ein Grundbedürfnis, auch wenn sie nicht mehr institutionell gebunden zu sein scheint. Die Zwischen-Zeit ist somit auch eine Zeit der Suchbewegungen. Sie ist durchzogen von Hoffnungsfragmenten, latenter Sehnsucht und experimentellen Entwürfen. Genau hier könnte die theologische Reflexion von Hoffnung ansetzen als dialogische, offene und tragfähige Antwort auf eine Gesellschaft im Übergang.
II. Hoffnung als konstitutive Kraft in Zeiten des Dazwischen
Biblisch-theologische Grundlegung einer Zwischen-Zeit-Hoffnung
Die biblische Tradition ist reich an Zwischen-Zeiten und sie ist reich an Hoffnung. Ob das Volk Israel auf dem Weg durch die Wüste, das babylonische Exil oder die Erfahrung des Karsamstags. Die entscheidenden Erfahrungen der Gottesbegegnung ereignen sich häufig nicht im Zustand erfüllter Verheißung, sondern im Übergang. Hoffnung ist im biblischen Sinn kein Besitz, sondern Bewegung, eine Erwartung, die sich in Unsicherheit bewährt.
Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung ist hier paradigmatisch. Hoffnung ist für ihn keine Vertröstung auf das Jenseits, sondern eine revolutionäre Kraft, die aus der Zukunft Gottes in die Gegenwart hineinwirkt. „Die Auferstehung ist nicht nur ein Wunder an Jesus, sondern der Anfang der neuen Welt,“ schreibt Moltmann. In dieser Sicht ist Hoffnung nicht an das Sichtbare gebunden, sondern öffnet Räume des Noch-nicht.9
Auch Tomas Halík spricht von einer „Geduld der Hoffnung“.10 In seinen Deutungen wird deutlich, dass das Schweigen Gottes, die Erfahrung des Mangels, nicht Zeichen der Abwesenheit sind, sondern Bedingungen der Reifung. Hoffnung ist bei ihm eng mit dem Dunkel verbunden, nicht als Defizit, sondern als Tiefe.11
Hoffnung als Erwartung im Modus der Unsicherheit
Hoffnung ist keine Versicherung gegen die Zumutungen des Lebens. Sie ist kein sentimentaler Optimismus und kein Fluchtpunkt aus der Wirklichkeit. Vielmehr ist sie eine Haltung, die im Angesicht der Unsicherheit offen bleibt und zwar nicht resignativ, sondern gespannt und neugierig.12
Peter L. Berger spricht vom „Lob des Zweifels“. Ein Glaube, der sich nicht infrage stellen lässt, wird ideologisch. Hoffnung braucht den Raum der Unsicherheit, um lebendig zu bleiben. Sie lebt vom Paradox, denn sie rechnet mit dem Neuen, ohne es zu kennen. Sie vertraut, ohne Garantien zu verlangen.13
Jan Loffeld bringt diese Dimension in seiner Rede vom fruchtbaren Fehlen zum Ausdruck.14 Wo Gott zu fehlen scheint, entstehen neue Deutungsräume. Hoffnung wächst nicht trotz der Leere, sondern in ihr. Sie ist ein Vertrauen ins Unverfügbare.
Hoffnung als „konkrete Utopie“ in pluralistischen Zeiten
In pluralistischen Kontexten wird Hoffnung oft zur individuellen Projektion. Doch theologisch verstanden ist sie mehr. Sie ist eine soziale, politische und spirituelle Energie. Moltmann nennt sie „konkrete Utopie“.15 Sie ist kein Luftschloss, sondern eine kraftvolle Erwartung des Kommenden. Diese Hoffnung wehrt sich gegen zwei Versuchungen. Sie wendet sich sowohl gegen den Zynismus des „Es wird ja doch nichts besser“ als auch gegen die Apokalyptik, die alles Heil in der Katastrophe sieht. Hoffnung ist weder Vertröstung noch Katastrophenerwartung, sondern widerständige Zukunftstreue.
Gerade in Zeiten kollektiver Ermüdung und politischer Polarisierung kann eine solche Hoffnung ein tiefes Gegennarrativ stiften. Sie sieht die Welt nicht durch die Brille des Defizits, sondern des Möglichkeitsraums. Sie fragt nicht nur „Was fehlt?“ sondern auch „Was ist schon im Werden begriffen?“
III. Resonanzräume der Hoffnung heute
Sinnlandschaften der Gegenwart
Hoffnung ist kein exklusiv religiöses Phänomen. Auch in einer säkularisierten, fragmentierten Gesellschaft bleibt Hoffnung gerade in Zeiten der Unsicherheit ein zentrales Bedürfnis. Die Frage, worauf Menschen hoffen, ist vielfältig beantwortet. Die Menschen hoffen auf Sicherheit, Gerechtigkeit, Anerkennung, Sinn, Heilung, Beziehung u.a.m. Diese Vielfalt ergibt eine komplexe Sinnlandschaft der Gegenwart.
Empirische Studien wie das Hoffnungsbarometer, die Shell-Jugendstudie oder die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen zeigen, dass Hoffnung vor allem dort aufscheint, wo Menschen Verbundenheit erleben, beispielweise in Beziehungen, in sinnhaften Tätigkeiten, in spirituellen Erfahrungen. Gerade junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren artikulieren eine hohe Sehnsucht nach Sinn, aber zugleich ein tiefes Misstrauen gegenüber tradierten Institutionen und Großnarrativen.
In dieser Konstellation entstehen neue Hoffnungsorte. Mikropraktiken der Achtsamkeit, zivilgesellschaftliches Engagement, digitale Communities, Klimaaktivismus oder kreative Projekte. Hoffnung ist oft nicht laut, sondern leise; nicht global, sondern lokal; nicht idealistisch, sondern pragmatisch.
Diese neue Topografie der Hoffnung lässt sich nicht auf klassische religiöse Kategorien zurückführen, und doch sind religiöse Motive darin lesbar wie Versöhnung, Heilung, Neuanfang oder Erlösung. Die Zwischen-Zeit ist damit auch ein Resonanzraum für eine implizite Theologie.
Kirche in der Zwischen-Zeit: Hoffnungsagentur oder Residualstruktur?
Kirche steht in der Zwischen-Zeit unter doppeltem Druck. Institutionell durch Mitgliederrückgang, Relevanzverlust sowie Reformstau und theologisch durch den Ruf, Hoffnungsräume zu eröffnen, ohne falsche Sicherheiten zu versprechen. Sie bewegt sich zwischen Abschied und Aufbruch. Die Frage lautet daher: Wie kann Kirche Hoffnung nicht als Behauptung, sondern als Einladung verkörpern? Nicht als Antwortgeberin, sondern als Mitgehende im Fragen? Eine mögliche Antwort liegt in der Rolle der Kirche als "Zwischen-Ort":
· Liturgisch: Rituale, die Zeit strukturieren, Übergänge gestalten, Trost ermöglichen.
· Diakonisch: Praktische Hilfe, die nicht nur Probleme löst, sondern Würde stiftet.
· Diskursiv: Orte des offenen Gesprächs, der gemeinsamen Deutung und der pluralen Sinnsuche.
Gerade weil sie institutionell brüchig ist, kann Kirche glaubwürdig werden, wo sie sich nicht als Besitzerin, sondern als Zeugin der Hoffnung versteht. Sie ist dann nicht Zentrum, sondern Schwelle, nicht Festung, sondern Zelt, in der Hoffnung keimen darf.
Diakonie als performative Hoffnung
Diakonisches Handeln ist gelebte Hoffnung. Es macht sichtbar, dass Veränderung möglich ist, nicht als Ideal, sondern als konkrete Tat. In Pflege, Beratung, Teilhabeprojekten, Quartiersarbeit, Inklusion oder Nothilfe ereignet sich Hoffnung als Praxis.
Dabei geht es nicht nur um das „Was“, sondern um das „Wie“. Es geht um Haltung, Beziehung, und Resonanz. Diakonie wirkt dort als Hoffnungskraft, wo sie Menschen nicht auf Defizite reduziert, sondern ihnen Zukunft zutraut. Wo sie nicht Verwaltung ist, sondern Zuwendung. Nicht nur Dienst, sondern auch Dialog.
In einer Zeit der Ermüdung, Fragmentierung und Verunsicherung kann Diakonie zum performativen Ausdruck einer Hoffnungskultur werden. Hoffnung, die nicht besänftigt, sondern bestärkt. Hoffnung, die nicht vertröstet, sondern befähigt. Hoffnung, die nicht abstrakt bleibt, sondern konkret wird im Hier und Jetzt.
IV. Was Hoffnung heute braucht – Perspektiven für ein neues Morgen
Sprachfähigkeiten der Hoffnung entwickeln
Hoffnung braucht Sprache, und zwar nicht im Sinne von Parolen, sondern als vielstimmige Erzählung, die Unsagbares berührbar macht. In der Zwischen-Zeit, in der alte Narrative brüchig und neue noch ungeformt sind, gewinnt die Sprachfähigkeit von Hoffnung zentrale Bedeutung.
Das bedeutet: Hoffnung muss neu erzählt werden. Jenseits religiöser Abkürzungen, jenseits politischer Zweckoptimismen, jenseits psychologischer Selbstbesänftigung. Hoffnung braucht eine poetische Sprache, die Ambivalenz aushält, Brüche benennt und dennoch vom Kommenden spricht.
Kirche und Theologie stehen hier vor einer doppelten Aufgabe.
Dekonstruktion: Hoffnung wurde in der Vergangenheit allzu oft zur Vertröstung umgedeutet als Jenseitsvertrauen ohne Gegenwartsbezug, als innerer Trost auf Kosten politischer Veränderung, als Gefühl ohne Gestalt. Sprachmuster wie „Alles wird gut“ oder „Gott hat einen Plan“ wirken in Zeiten realer Verunsicherung häufig wie billige Absicherungen und verlieren ihre Überzeugungskraft. Auch liturgische Routinen und theologische Floskeln („Hoffnung, die uns trägt“, „Hoffnung wider alle Hoffnung“) können sich abnutzen, wenn sie nicht mehr mit gelebter Wirklichkeit korrespondieren.
Die Aufgabe lautet hier: Welche Begriffe sind zu abstrakt geworden? Welche Bilder (z. B. Licht, Weg, Anker) sind zu dekorativen Metaphern erstarrt? Welche biblischen Motive wurden vereindeutigt, statt sie als Spannungsräume zu entfalten? Eine Sprachkritik der Hoffnung muss diese Elemente aufspüren und aus der Erstarrung lösen.
Rekonstruktion: Gleichzeitig braucht es eine Erneuerung der Hoffnungssprache. Es braucht eine Sprache, die nicht verharmlost, sondern vertieft. Hoffnung muss sprachlich wieder zumutbar, anstößig und kraftvoll werden. Das gelingt, wenn sie mit Brüchen spricht, mit Dunkelheiten rechnet und das Unfertige nicht meidet.
Neue Erzählformen könnten etwa narrative Predigten sein, die das Offene nicht scheuen. Liturgische Formen, die Klage und Erwartung miteinander verweben. Metaphern, die aus der Lebenswirklichkeit der Menschen geschöpft sind, etwa das leise Wachsen, die ungewisse Richtung, das wieder Aufstehen. Auch nonverbale Ausdrucksformen wie Musik, Bild oder Bewegung können Hoffnung jenseits des rein Rhetorischen kommunizieren. So kann eine Sprache der Hoffnung entstehen, die nicht abschließt, sondern öffnet. Nicht erklärt, sondern einlädt. Nicht vereinfacht, sondern vertieft. In einer Welt, die zwischen Verlustangst und Eskapismus schwankt, kann Hoffnung nur dann anschlussfähig sein, wenn sie ehrlich ist – und dabei doch nicht zynisch wird.
Kirchliche Strategien in der Zwischen-Zeit
Die Zwischen-Zeit erfordert keine Strategien der Machbarkeit, sondern der Beweglichkeit. Kirche, die Hoffnung verkörpern will, muss lernen, mit dem Unfertigen zu leben, mit dem Vorläufigen zu arbeiten, mit dem Unsicheren zu glauben. Drei Haltungen sind dabei zentral:
1. Weglassen: Abschied nehmen von überkommenen Formen, Sicherheiten und Erwartungen, die Hoffnung blockieren. Dazu gehören etwa Selbstbilder der Kirche, die sich als moralisch oder spirituell belehrend versteht, anstatt mit der Welt solidarisch zu sein. Auch der technokratische Veränderungswille, der Glaube, man könne Kirche durch Managementprozesse, Programme und Optimierungsstrategien retten, greift zu kurz. Solche Haltungen erzeugen oft mehr Erschöpfung als Erneuerung. Weglassen heißt in diesem Sinne auch leer werden dürfen, damit Neues Raum gewinnt. Sich trennen von Formen, die nur noch aus Tradition bestehen, nicht mehr aus Überzeugung. Mut zur Lücke wird zur Voraussetzung für neue Fülle.
2. Neuaufbau: Hoffnung als Suchbewegung ernst nehmen heißt, Kirche als Labor zu verstehen, nicht als Museum. Neue geistliche Formen wie kontemplative Gebetsräume, experimentelle Liturgien, spirituelle Gemeinschaften jenseits territorialer Strukturen können Resonanz stiften, wo klassische Modelle ermüden. Auch sozial engagierte Kirchenräume, in denen Spiritualität und Gerechtigkeitspraxis ineinandergreifen, zeigen, dass Hoffnung vom Mut zum Experiment lebt. Zukunftslabore, die Fragen zulassen, Irritation aushalten und kreative Formate ermöglichen, sind Ausdruck einer Theologie, die nicht vom Bestand, sondern vom Aufbruch her denkt. Innovation wird so nicht zum Mittel des Überlebens, sondern zur Frucht gelebter Hoffnung.
3. Haltung: Hoffnung ist kein Konzept, das man planen oder implementieren kann. Sie ist eine Grundhaltung des Glaubens. Diese Haltung ist geduldig, weil sie mit Langsamkeit rechnet; demütig, weil sie nicht sich selbst zum Maßstab nimmt; und prophetisch, weil sie Missstände nicht übersieht, sondern anspricht. Hoffnung hält die Spannungen aus zwischen Sehnsucht und Realität, zwischen Vision und Widerstand, zwischen dem Jetzt und dem Noch-nicht. Sie verlangt nicht nach schnellen Lösungen, sondern lebt von der Treue zum Unvollendeten. Eine solche Haltung verändert das Handeln. Sie drängt nicht auf Erfolg, sondern auf Wahrhaftigkeit. Sie vertraut nicht auf Macht, sondern auf Beziehung. Sie agiert nicht aus Angst, sondern aus Verheißung.
Kirche kann so zur Weggemeinschaft im Dazwischen werden. Nicht weil sie alle Antworten hat, sondern weil sie das Fragen aushält. Nicht weil sie das Ziel kennt, sondern weil sie das Unterwegssein heiligt.
Hoffnung als politische und gesellschaftliche Kraft
Hoffnung ist mehr als ein persönliches Gefühl oder ein spiritueller Akt. Sie hat eine politische Dimension, die oft übersehen wird. In Krisenzeiten wird der öffentliche Raum häufig von Angstnarrativen, Sicherheitsdiskursen und Abgrenzung besetzt. Hoffnung dagegen eröffnet Perspektiven des Miteinanders, der Veränderung und der Gerechtigkeit.
Eine Theologie der Hoffnung muss daher immer auch Demokratie stärken als Raum des Dissenses, der Beteiligung und der Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie darf sich nicht nur auf individuelle Seelenpflege zurückziehen, sondern ist gefordert, sich in politische Konflikte einzubringen, mit dem Ziel sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Umkehr und globaler Solidarität Gehör zu verschaffen. Denker wie Jürgen Moltmann, Dorothee Sölle16 oder Ernst Bloch17 haben Hoffnung stets als historisch wirksame Kraft verstanden. Auch Paul Ricoeur sprach von Hoffnung als „kleiner Utopie“ im Alltag, als Ethik der Erwartung.18 Und Dietrich Bonhoeffer sah in der Hoffnung auf das Kommende die Verpflichtung, im Heute Verantwortung widerständig, realistisch, glaubend zu übernehmen.19
In diesem Sinn ist Hoffnung kein Rückzugsort, sondern eine politische Bewegung. Eine Bewegung der Beteiligung, der Zivilcourage, der Weltzugewandtheit. Kirche und Diakonie können hier als „Hoffnungsagenturen“ wirken, wenn sie das Evangelium nicht nur verkünden, sondern auch konkret machen in Schutzräumen, Beteiligungsprozessen und prophetischen Impulsen für die Gesellschaft.
Säkularisierte Hoffnungskulturen und interreligiöse Perspektiven
Hoffnung ist nicht exklusiv christlich. Auch in säkularen, interreligiösen und popkulturellen Kontexten entfalten sich Hoffnungsnarrative, die in die gleiche Richtung weisen – ohne dieselben Begriffe zu verwenden. In der Klimabewegung etwa artikuliert sich Hoffnung als Handlungsimpuls angesichts ökologischer Ohnmacht. Trotz düsterer Zukunftsszenarien glauben viele an die Veränderbarkeit von Strukturen nicht aus Naivität, sondern aus Überzeugung.
Auch in der Care-Politik wächst ein Ethos der Sorge und Fürsorge, das Hoffnung als soziale Verantwortung begreift. Digitale Sinnfluencer:innen wiederum geben Alltagsimpulse, spirituelle Resonanzräume oder Gemeinschaftsangebote, die für viele zu neuen Sinnträgern werden.
In interreligiöser Perspektive zeigt sich Hoffnung in jüdischen, islamischen, buddhistischen oder indigenen Traditionen als Vertrauen in eine tiefere Ordnung, nicht selten jenseits linearer Fortschrittsmodelle. Der interreligiöse Dialog über Hoffnung könnte deshalb auch helfen, globale Hoffnungskompetenz zu entwickeln.
Eine Theologie der Hoffnung in der Zwischen-Zeit sollte offen sein für solche nichtkirchlichen Ausdrucksformen. Nicht um sie zu vereinnahmen, sondern um von ihnen zu lernen. Denn wo Hoffnung geteilt wird, wächst auch gegenseitige Verständigung.
Schlussbetrachtung: Hoffnung als Atem der Zukunft in der Gegenwart.
In der Zwischen-Zeit erscheint Hoffnung nicht als Triumphformel, sondern als tastende Kraft. Sie ist nicht Zustand, sondern Bewegung. Sie ist ein Gehen ins Offene, ein Vertrauen jenseits des Wissbaren, ein Wagnis der Treue ohne Garantien.
Die Kirche ist in dieser Zeit weniger Institution als Erzählerin. Sie erzählt von Auferstehung im Dunkel, von Trost im Zweifel, von Weltveränderung durch das scheinbar Kleine. Ihre Glaubwürdigkeit liegt nicht in der Macht der Überzeugung, sondern in der Kunst der Resonanz. Wenn Hoffnung in der Zwischen-Zeit eine Chance hat, dann dort, wo sie nicht als Besitz verteidigt, sondern als Gabe geteilt wird. Wo sie nicht die Antworten vorgibt, sondern das Fragen öffnet. Wo sie nicht auf Erlösung wartet, sondern auf das Jetzt mit Zuwendung, Vertrauen und Mut antwortet.
So verstanden ist Hoffnung kein Rückzugsraum, sondern ein Zukunftslabor. Kein innerer Rückhalt allein, sondern ein Impuls zur Veränderung. Und kein Versprechen auf ein anderes Leben, sondern eine Praxis mitten im Leben.
Hoffnung ist kein theoretisches Konstrukt, sondern eine Haltung, die in Strukturen, Sprache und Handeln Gestalt gewinnt. Wer von Hoffnung in einer Zwischen‑Zeit spricht, darf sie nicht nur denken, sondern muss sie in Theologie, Kirche, Diakonie und gesellschaftlicher Verantwortung praktizieren. Hoffnung will sich bewähren in einem Raum, der weder stabil noch abgeschlossen ist. Sie fordert dazu heraus, die Gegenwart nicht zu verwalten, sondern als Übergang zu gestalten.
Für die Theologie bedeutet das, Hoffnung als Querschnittsperspektive zu begreifen. Sie ist nicht ein Spezialgebiet der Eschatologie, sondern eine Grundkategorie jeder Rede von Gott. Theologie der Hoffnung ist öffentliche Theologie. Sie verbindet Glauben mit Weltdeutung, Spiritualität mit Verantwortung. In einer Zeit, die sich zwischen Angst und Überforderung bewegt, braucht sie eine neue Sprache, die die Ambivalenzen der Gegenwart nicht beschönigt, sondern aushält. Das verlangt nach interdisziplinären Zugängen zu Philosophie, Soziologie, Psychologie, Kunst u.a. Hoffnung muss die apokalyptischen Stimmen der Gegenwart ernst nehmen, um sie theologisch zu durchdringen und ihnen eine alternative Erzählung entgegenzuhalten, die Erzählung von der Zukunft Gottes mitten in der Geschichte.
Für die kirchliche Praxis erwächst daraus die Aufgabe, Hoffnungsräume zu eröffnen, nicht als Veranstaltungsformate, sondern als existenzielle Erfahrungsräume. Liturgie, Seelsorge, Predigt und digitale Kommunikation können zu Orten werden, an denen Menschen ihre Sehnsucht artikulieren, ihre Fragen riskieren und ihre Ohnmacht teilen können. Klage und Erwartung, Schmerz und Staunen gehören dabei zusammen. Kirche wird dann zur Resonanzgemeinschaft, in der das Noch‑nicht‑Erfüllte nicht verdrängt, sondern gehalten wird. Hoffnungskommunikation heißt, Geschichten des Gelingens und des Suchens zu erzählen, die Menschen wieder mit der Idee versöhnen, dass Zukunft möglich ist.
Für die Ausbildung in Kirche und Diakonie heißt das, Hoffnungskompetenz zu einer Schlüsselqualifikation zu machen. Sie umfasst mehr als Methodenwissen, nämlich die Fähigkeit, in Unsicherheit zu führen, Spannungen zu halten und Ambiguität zu ertragen. Wer Hoffnung verkörpern will, muss lernen, aus Quellen zu leben, die nicht von Erfolg abhängen, etwa aus Gebet, Stille, Kunst und Nähe. Hoffnungskompetenz ist zugleich Selbstsorge und Weltverantwortung. Sie befähigt dazu, sich vom Unverfügbaren berühren zu lassen, ohne die Handlungskraft zu verlieren.
Für Leitung und Organisation ergibt sich daraus eine geistliche Führungslogik. Hoffnung lässt sich nicht managen, aber sie kann kultiviert werden. Leitungsverantwortliche sind in der Zwischen‑Zeit nicht primär Verwalterinnen des Mangels, sondern Hüterinnen der Möglichkeiten. Hoffnung als Führungsstil heißt, ermutigen statt kontrollieren, zuhören statt zementieren, lernen statt sichern. Wer Hoffnung führt, schafft Resonanzräume für andere. Räume, in denen Neues wachsen darf, auch wenn es noch unvollkommen ist.
Für die Diakonie schließlich wird Hoffnung zur performativen Kategorie. Sie geschieht dort, wo Menschen Würde erfahren, wo Teilhabe ermöglicht und Gerechtigkeit konkret wird. Hoffnung hat hier Hände und Füße, sie organisiert Nachbarschaft, gestaltet Inklusion, begleitet die Verwundeten des Lebens. Diakonisches Handeln wird so zu einem lebendigen Gleichnis dafür, dass Gottes Zukunft schon jetzt anbricht, mitten in den Bruchstellen der Welt.
Hoffnung in der Zwischen-Zeit umfasst eine Theologie, die sich der Gegenwart zumutet. Eine Kirche, die lernt, im Offenen zu leben. Eine Diakonie, die Hoffnung tut, bevor sie sie verkündet. Und eine Gesellschaft, die inmitten von Krisen wieder Vertrauen in ihre Gestaltungskraft gewinnt. Hoffnung ist kein Zustand, sondern eine Bewegung, die im Kleinen die Welt verwandelt, im Fragmentarischen, im Unvollendeten. Sie ist der Atem der Zukunft in der Gegenwart.
Fußnoten
- Bruno Latour, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin 2017. ↩
- Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019. ↩
- Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. ↩
- Andreas Reckwitz, Verlust. Ein Problem der Moderne, Berlin 2024. ↩
- Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010. ↩
- Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Berlin 2012. ↩
- Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. ↩
- Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 2018. ↩
- Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 1964, 29–31, 81–82, 331ff. ↩
- Tomas Halik, Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute, Freiburg im Breisgau 2010, 11. ↩
- Tomas Halik, Nicht ohne Hoffnung. Glaube im postoptimistischen Zeitalter, Freiburg im Breisgau 2025, 89ff.e ↩
- Byung-Chul Han, Der Geist der Hoffnung. Wider die Gesellschaft der Angst, Berlin 2024. ↩
- Peter L. Berger, Lob des Zweifels. Über die Bedeutung von Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1994. ↩
- Jan Loffeld, Wenn nicht fehlt, wo Gott fehlt. Theologie und Kirche in der postsäkularen Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2019. ↩
- Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung, München 1964, 310. ↩
- Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei, Hamburg 1997. ↩
- Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1985. ↩
- Paul Ricoeur, Hoffnung und Geschichte. Drei Reden, München 2007. ↩
- Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh 1998, 453-456. ↩