Die Zukunftskraft des allgemeinen Priestertums

Beseelt (und auch reichlich erschöpft) komme ich aus der gerade beendeten midi-Tagung. Um KRAFT ging es da: sowohl um Kraft für einzelne Personen als auch um Kraft für die Institutionen Kirche und Diakonie.

Mit Dr. Sabrina Müller von der Universität Zürich hatten wir eine ausgewiesene Fachfrau, die uns auf ebenso charmante wie gelehrte Weise vermittelte, dass die Kirche ihre Zukunft verspielt, wenn sie nicht in sehr viel höherem Maß als bisher riskiert, Kirche des allgemeinen Priester­tums zu sein. „Theodidacti“ (Gottgelehrte) sollten alle Christinnen und Christen sein, zitiert die reformierte Theologin den Schweizer Reformator Ulrich Zwingli. Dessen berühmte „Zürcher“ Bibel­übersetzung war nicht allein das Werk eines oder mehrerer Theolog*innen, sondern entstand im öffentlichen Dialog – in der so genannten „Prophezey“. – Wie inspirierend ist das denn!

Ein für Sabrina Müller wesentlicher Begriff ist der des Empowerments. Wörtlich übersetzt heißt Empowerment „Ermächtigung“. Das ist spätestens seit 1933 kein gutes Wort mehr – ja besagt seit damals geradezu das Gegenteil dessen, was der Begriff im Kontext eines allgemeinen Priestertums besagt. Bei Empowerment geht es nämlich um die Umverteilung von Macht und Verantwortung von oben nach unten und damit um die Erhöhung der Urteils-, Sprach- und  Handlungsfähigkeit jedes einzelnen Christenmenschen.

Eigentlich steht ein solches „Allgemeines Priestertum“ seit den Tagen Martin Luthers in den Grundsatzprogrammen jeder evangelischen Kirche. Nur, dass es kaum irgendwo praktisch umgesetzt wird. Wie viel Zukunfts-Kraft hinter einem konsequent gelebten allgemeinen Priestertum steckt, macht Sabrina Müller anhand von drei Fremdzitaten deutlich:

Der Schlüssel zur Veränderung in der Kirche in England war die Erlaubnis.

Dieses Zitat stammt von Rowan Williams, dem früheren Erzbischof der Anglikanischen Kirche in England. Unter seiner Leitung öffnete sich die Church of England (CoE) angesichts ihres faktischen Bankrotts im Jahr 2004 für völlig neue Gemeindeformen, die sich neben den klassischen Ortsgemeinden etablierten.

Christinnen und Christen sammelten sich um bestimmte Zielgruppen, Themen oder konkrete Nöte der Gesellschaft herum und bildeten meist kleine, manchmal auch größere geistliche Gemeinschaften. Diese wurden in den seltensten Fällen von hauptamtlichen Kräften geleitet. Manchmal waren Pfarrpersonen Teil dieses Projekts, oft auch nicht. Trotzdem bekamen sie Gemeindecharakter zugesprochen und durften Gottesdienste feiern. Heute, 17 Jahre später, kann man sagen, dass diese Öffnung ein Wagnis war, das die Kirche in England ganz neu hat aufblühen lassen.

Rechte zu haben, aber keine Ressourcen und keine Hilfestellung dafür zur Verfügung gestellt zu bekommen, ist ein grausamer Scherz.

(„Having rights but no resources and no services available is a cruel joke“.) Dieser Satz des amerikanischen Sozialpsychologen Julian Rappaport beschreibt sehr gut, was es bedeutet, das allgemeine Priestertum zwar in feierlichen Ansprachen immer wieder zu besingen, nicht aber Sorge dafür zu tragen, dass Menschen dazu auch wirklich ermächtigt werden.

Das allgemeine Priestertum fällt nicht einfach vom Himmel. Theologinnen und Amtsträger werden dabei auch nicht überflüssig. Ihnen kommt vielmehr eine ganz besondere Bedeutung zu: nämlich Christinnen und Christen an der Basis dabei zu helfen, sprach-, urteils- und handlungsfähig zu werden. Ihre primäre Aufgabe ist es, nicht statt den Leuten, sondern mit ihnen Theologie zu treiben. Wie bereits vor 500 Jahren in der Prophezey.

Christinnen im Alltag theologisch zu ermächtigen, ist die explosive Seite des Christentums

sagt der Bochumer Systematiker Günter Thomas. Dass das Christentum heute so wenig Sprengkraft bzw. so wenig Zukunftskraft ausstrahlt, hat viel damit zu tun, dass die Kirche die Lösung der anstehenden Probleme vor allem auf der Ebene der Organisationsentwicklung sucht: „Wie kann man mit immer weniger werdendem Geld den Betrieb so gut wie möglich am Laufen halten?“

Das ist eine rechnerisch völlig naheliegende Frage. Freilich lässt bereits die Fragestellung erwarten, dass am Ende für notwendige Innovationen und radikale Veränderungen nur wenig Platz sein wird: Es ist ja kaum mehr Geld für das Bisherige da, wie soll man da noch Neues aufbauen? Die Lösungen, die derzeit in der Kirche gefunden werden (Stellen kürzen, Gemeinden zusammenlegen, Kirchen verkaufen etc.), sind wirtschaftslogisch zwar oft plausibel, motivationstechnisch allerdings verheerend. Sie vermitteln keinerlei Begeisterung und Aufbruchsstimmung.

Diese wird erst wieder kommen, wenn die Kirche ihren Fokus darauf setzt, dass und wie Christinnen und Christen an der Basis zu „Theodidacti“ werden: Menschen, die – von Gott begeistert – theologisch urteils-, sprach- und handlungsfähig sind und darum die Zukunft des Christentums selbst in die Hand nehmen, statt diese der Kirche allein zu überlassen.

Literaturhinweis

Sabrina Müller, Gelebte Theologie. Impulse für eine Pastoraltheologie des Empowerments. TVZ Zürich, NF 14-2019.

Die Vorträge der Tagung haben wir in einer YouTube-Playlist für Sie zusammengestellt.