Das Religiöse gehört dazu
Interview
Lieber Dr. Thomas Schlegel, seit dem 1. Juni 2025 bist Du neuer Direktor bei midi. Kannst Du Dich erinnern wann Du das erste Mal midi wahrgenommen hast? Und wie?
Schlegel: Eigentlich habe ich midi schon wahrgenommen, als es midi noch gar nicht gab: Die Überlegungen, das EKD-Zentrum „Mission in der Region“ mit der AMD bei der Diakonie zusammen zu führen, lagen vor fast 10 Jahren in der Luft. Für das Joint Venture waren auch noch andere Player im Gespräch. Es sollte eine „richtig große Sache“ werden: der missionarisch-diakonische ThinkTank in Deutschland. Große Erwartungen! Ich bekam dann auch mit, dass der Start nicht einfach war: Corona, das Verbinden verschiedener Logiken und Ziele. Ich würde heute sagen: midi ist eine „richtig große Sache“ geworden, mit einem exzellenten Team, den richtigen Themen und einer bemerkenswerten Reichweite.
Jetzt bist Du Direktor der Arbeitsstelle. Warum hast Du Dich um diese Funktion bei midi beworben?
Schlegel: Da kam Verschiedenes zusammen. Am wichtigsten: Die Arbeitsstelle hat mich gelockt. In der heutigen Großwetterlage braucht es so etwas unbedingt: Eine Zukunftswerkstatt, die mit Blick auf morgen anbahnt, was heute getan werden sollte. Und zwar nicht nur im operativen Klein-Klein, sondern in den großen Fragen: Dazu Anregungen zu geben und Bilder zu malen, im Blick auf Diakonie und Kirche, mit missionarischem Vorzeichen, kompetenten Leuten, bundesweit – finde ich ausgesprochen reizvoll. Dass alles derzeit so unsicher ist, erlaubt uns, voller Vertrauen grundsätzlich zu fragen, mutig zu sein und Demut neu zu buchstabieren. Für mich eine Traumkombination – die zur rechten Zeit am Horizont auftauchte!
midi ist eine Arbeitsstelle in der Diakonie Deutschland, wird aber auch von der EKD und der Arbeitsgemeinschaft missionarische Dienste (AMD) getragen. Wie würdest Du Dein Verhältnis (bisheriges) zu diesen 3 Institutionen beschreiben?
Schlegel: Die Themen, die Haltungen und die Frömmigkeit der AMD sind mir nicht nur vertraut, sondern auch lieb und teuer. Als ehemaliger Referent im EKD-Zentrum „Mission in der Region“ habe ich einen engen Draht zu Hannover entwickelt, der auch in meiner EKM-Zeit nie abgerissen ist. Mit der institutionellen Diakonie hatte ich sicher die wenigsten Berührungen. Das ändert sich gerade, weil ich an ein paar Stellen in die Tiefe bohre und diakonische Verbände und Träger besuche. Wichtiger ist allerdings: das Miteinander der Dimensionen, für die die drei Institutionen stehen, halte ich unerlässlich und zukunftsweisend.
Dein Studium der Theologie hast Du unter anderem in Südafrika absolviert. Gibt es etwas aus Südafrika, dass Du in Deutschland vermisst?
Schlegel: Oh ja, manche Selbstverständlichkeiten! Wie entspannt dort inzwischen die verschiedenen Kulturen und Religionen zusammenleben: Man hat die ganze Welt in einem Land. Ich wundere mich seitdem über manche Debatten in Deutschland, die so hysterisch geführt werden. Das kann ich nicht nachvollziehen. Eine zweite Normalität: Das Religiöse gehört dazu. Dass da etwas Höheres ist, stellt kaum einer in Frage. So war es völlig selbstverständlich, dass der junge, gutaussehende Manager der Pizzeria, in der ich jobbte, zum Bibelgespräch geht. Gleich nach der Schicht. Aus (Ost)deutschland kenne ich das nicht: Die gesellschaftliche Avantgarde ist säkular. Wer zur Kirche gehört, verkörpert das Gestern.
Du hast Dich lang mit kirchlichen „Erprobungsräumen“ beschäftigt. Welche Erkenntnisse aus dieser Arbeit hast Du für die Zukunft der Kirche und der Diakonie gewonnen? Was kann midi daraus lernen?
Schlegel: Ich habe mich nicht nur mit dem Erproben beschäftigt: Wir haben es in Mitteldeutschland auch erprobt, das Erproben. Schon 2014 hat die Synode die „Erprobungsräume“ beschlossen, „neue Gemeindeformen im säkularen Umfeld“. Dazu gab es deutschlandweit ein enormes Interesse. Ich bin viel eingeladen worden. In der Hoffnung, damit eine Antwort auf die Krise zu liefern. Aber da musste ich enttäuschen: Die Erprobungsräume sind keine „Antwort“; sie verkörpern das Aushalten der Krise, das kreative Spielen mit dem Ende unseres Kirchentums. Sie müssen der kritische Rand der Kirche sein – und bleiben. Das macht solche Prozesse spannend, offen und auch unsicher. Aber anders geht es nicht weiter. Davon bin ich überzeugt.
Bis vor kurzem hast Du das Referat „Gemeinde und Seelsorge, gemeindeergänzende Einrichtungen und Werke der EKM, Leitlinien, Lebensordnung, Erprobungsräume“ geleitet – ein Titel, fast so lang wie der von midi. Was kann man unter „gemeindeergänzende Werke“ verstehen und wie wird deren Rolle sein, wenn sich die Gemeinden so grundlegend verändern?
Schlegel: Mein Verantwortungsbereich in der EKM war tatsächlich sehr breit, typisch für eine kleinere Landeskirche: Gottesdienst, Visitation, Kirchentag, Ehrenamt, Kommunitäten, Spiritualität, Kollekten, Tourismus, die ganze spezialisierte Seelsorge, Bibel, Kirchenentwicklung, Mission, Lebensordnung, Theologische Grundsatzfragen usw. Aber zum Glück waren da viele kompetente Leute, die die Bereiche jeweils mit Leben gefüllt haben.
Eigentlich heißt es „gemeindeunterstützend“ und angesprochen ist damit der Servicecharakter, der beispielsweise der Gemeindedienst verkörpert: Die Kirchenvorstände werden in Schulungen befähigt, Sitzungen zu leiten, Prioritäten zu treffen und Hintergründe zu verstehen. Eine sehr wichtige Arbeit, gerade für eine künftige Kirche.
Du bist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Missionale Kirchen- und Gemeindeentwicklung im Center for Empowerment Studies an der Theologischen Fakultät der Universität Halle. Hand aufs Herz: missional oder missionarisch?
Schlegel: Wenn man „missional“ sagt, betont man dabei das inkarnatorische Element der Mission: Dass man sich auf Denken, Fühlen und Handeln des Gegenübers einlassen muss – und sich dabei selbst verändert. Das bildet auch der Begriff „Kommunikation“ ab; aber auch missionarische Protagonisten wussten das. Die zentrale Frage ist für mich eine andere: Gibt es da noch etwas, was wir teilen können – und wollen? Ich erlebe eine große missionarische/missionale Sprachlosigkeit, ja Unsicherheit: Nett und einladend zu sein, fällt noch leicht; aber wo es um Gott geht und das, was Jesus für uns getan hat – da wird es irgendwie peinlich, still oder floskelhaft. Das offenbart auch eine geistliche Not. Ich bete um den „Erweis des Geistes und der Kraft“ – nicht nur in diesen Pfingsttagen.
midi ist ja nicht nur Zukunftswerkstatt und Thinktank für Kirche und Diakonie, sondern auch missionarischer Motor? Welchen Charakter hat Dein Missionsverständnis und wo siehst Du Chancen für eine gelingende Mission?
Schlegel: Bei Mission denken Viele intuitiv: „Verkündigung, Zeugnis, Predigt“. Also feiert eine „missionarische Kirche“ viele Gottesdienste; möglichst flächendeckend. Ich halte das für einen Kurzschluss. Weil Predigten heute nur eine Nische bedienen und wichtiger: Menschen verbal und intellektuell vom Glauben zu überzeugen, gelingt selten. Mission trägt in unserer säkularen Spätmoderne eher die Konnotation: „für Gott interessieren“; setzt also auf einen Pull- statt auf einen Push-Effekt. Menschen sind berührt von authentischen Christen und musikalischer Verkündigung. Emotionen, Geschichten und Gemeinschaft ziehen sie an. Kontemplation, Stille und ein gerüttelt Maß Mysterium fasziniert. Wir sollten mehr die Andersartigkeit ins Fenster stellen. Ruhig mal sperrig sein. Wer einmal interessiert ist, hört dann auch zu.
Zukunftswerkstatt will midi sein. Welche drei Ziele sollten in der kirchlichen und diakonischen Zukunft erreicht werden und welchen Beitrag wird midi unter Deiner Leitung dazu leisten?
Schlegel: So eine Frage am Schluss! Ich lasse es kurz und sage nur, was ich mir für die christlichen Lebensäußerungen in Zukunft wünschte: ganzheitlicher, geistlicher und fokussierter. Ach ja, und menschlicher, nahbarer. Das sind keine Ziele, und das lässt sich nicht operationalisieren. Aber unsere Träume können ja auch ein starker Motor sein.
Vielen Dank für das Gespräch.