Pause fürs Erleben

Nach dem Gottesdienst Anfang August kamen wir ins Gespräch. „Wir als Familie waren im Urlaub in Österreich – man muss ja mal was anderes haben“, erzählte er. Meine Frau und ich hatten es dieses Jahr aus Vorsicht anders gehalten: wir blieben zwei Wochen zu Hause.

Unser Urlaub hieß ausschlafen, Fahrrad fahren, viel Lesen, genussvoll kochen. Aber sein Bedürfnis konnte ich gut verstehen: Ein Wechsel an andere Orte macht auch mir mehr Spaß als freie Zeit am gewohnten Ort. Wir alle wollen etwas erleben.

Was haben wir in den letzten Monaten erlebt?

Das Übliche wurde zu großen Teilen ausgesetzt. Stattdessen ist uns die „Zerbrechlichkeit des Sozialen“1 auf den Leib gerückt.

Wir lernten Abstandsregeln, erlebten Schulschließungen, den Einbruch der Wirtschaft v.a. in kontaktabhängigen Branchen wie Tourismus, Gastronomie, Verkehr, Kultur – ganz abgesehen von sozialen Folgen der KiTa- und Schulschließungen, der Kurzarbeit samt möglichen Arbeitsplatzverlusten etc.

Dazu kam eine tiefe Kränkung, der Verlust des uneingeschränkten Zugangs zu den gewohnten Erlebnissen. Mobilität, Feiern, Tourismus, Events – alles war längst selbstverständlich, jederzeit erreichbar, erwartbarer Anspruch.

Viele reagieren nun wie enttäuschte Kinder, denen etwas Selbstverständliches entzogen wird. Übrigens: Unsere Probleme hier würden größere Teile der Welt gerne gegen ihre eintauschen – in den Slums von Nairobi oder Mumbai geht es schlicht ums Überleben.

Unsere Probleme hier würden größere Teile der Welt gerne gegen ihre eintauschen.

Corona als Kränkung?

Erleben ist menschlich fundamental. Der homo sapiens kann sich erleben, er ist ein ‚self-interpreting animal‘ (C. Taylor), kann nach sich selbst fragen, sich zu seinem Leben verhalten.

Wir „erleben, wie wir leben: wir genießen es, freuen uns daran, ärgern uns darüber, langweilen uns, möchten es anhalten oder könne nicht abwarten, bis es weiter geht. Im Guten wie im Schlechten lässt das Leben uns nicht kalt, wir stehen ihm nicht neutral gegenüber, sondern wir erleben, wie wir leben“.2

Erleben bedeutet Impulse, Unterbrechung, Inspiration, Berührung, Verzauberung, Erfahrung. Erleben ist echt, leiblich erfahrbar und zugänglich.

„Ich erlebe, also bin ich“

ist zum bevorzugten Lebensstil geworden. Vieles daran schätze auch ich. Ich genieße starke Naturerlebnisse, suche Nähe, mag Herausforderungen. Ich kenne auch meine Grenzen: Bungee Jumping wäre für jemand mit Höhenangst wie mich unvorstellbar.

Egal welche Grenzen wir erreichen wollen – hinter Grenzen austesten oder etwas riskieren liegt eine Sehnsucht nach spürbarem Erleben. Ich spüre mich, wenn ich etwas erlebe.

Die säkulare Gesellschaft kennzeichnet, dass sie die Kultur der Authentizität vergöttert.

Für den kanadischen Philosoph Charles Taylor kennzeichnet unsere säkulare Gesellschaft, dass sie die Kultur der Authentizität vergöttert, wo „jeder seine eigene Art hat, sein Menschsein in die Tat umzusetzen, und wonach es wichtig ist, den eigenen Stil zu finden und auszuleben“ – für Taylor eine Haltung des ‚expressiven Individualismus‘.3

Ich übersetze mir das so: Wenn ich (mich) erlebe, bin ich wirklich und wertvoll. Erst wenn und wo ich erlebe, bin ich überhaupt Ich und lebendig.

Die Spaßbremse Corona hat nun die Stopptaste gedrückt. Viele Angebote der Erlebnisgesellschaft funktionieren derzeit gar nicht, eingeschränkt oder im Verborgenen. Urlaub ist nur in wenigen Regionen möglich, Bus, Flugzeug und Bahn wurden mögliche Ansteckungsorte, Bundesliga, Konzert oder Theater finden fast nur am Bildschirm statt, Discos, Tanz, Feten oder Familienfeiern, schon gar Massenveranstaltungen sind streng limitiert – was macht das alles mit uns? Kommt nun Aus-die-Maus für die Erlebnisgesellschaft?

Die Einschränkungen werden bisher von der Mehrheit akzeptiert, weil wir sie als vorläufige Ausnahme empfinden. Das Problem: Einschränkungen und Verbote mögen dem Kopf noch einleuchten, aber auf der Bauchebene stauen sich, je länger es dauert, um so mehr Widerspruch und Unlust an.

So wächst unter der Sehnsucht nach Erleben Risiko-Ignoranz.

Familien feiern wieder ohne Masken, Großveranstaltungen wie die Tour de France werden auf Risiko geplant, demonstratives Ignorieren von sinnvollen Abstandsregeln nimmt zu.

Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, wie immer nah am Volksempfinden, hat schon prophezeit, dass wir „voraussichtlich im Laufe von 2021 wieder unser normales Leben führen werden können“.4

Wirklich? Viele Fachleute sagen, wir werden noch lange damit zu tun haben: Corona ist gekommen, um zu bleiben.

„Mir wird schon nichts passieren“

Also wird auch der Ärger über die Einschränkungen durch den Virus bleiben und sich Ventile suchen. Bei manchen als Leugnung („Corona-Verschwörung“), bei anderen werden staatliche Eingriffe als Freiheitsbeschränkung empfunden, die große Mehrheit unterstützt die Maßnahmen, wird aber im Alltag eher nachlässig („mir wird schon nichts passieren“).

Einige Reaktionen und Widerstände erscheinen schlicht als ignorant, als dumm. Aber Ärger oder Dummheit werden weder durch Belehrung noch durch Argumente überwunden, sondern nur durch einen ‚Akt der Befreiung‘ (Bonhoeffer).

„Das Wort der Bibel, daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei, sagt, daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist“.5

Dummheit kann man (wie Angst) nur mit Liebe zu den Menschen und Verständnis für ihre Ängste begegnen.

Dies ist allerdings nicht zu verwechseln mit Akzeptanz von Irrwegen oder Gefährdung anderer.

Befreiung anzusagen, Mut zuzusprechen ist ein grundlegender Auftrag des Volkes Gottes: „Sagt den verzagten Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!“ (Jes 35,4).

Das wäre doch eine gute Ansage: Erlebe diese verwirrende Zeit umfangen von der größeren Liebe des Schöpfers. Du bist doch ein wunderbares Wesen, du bist nicht verloren, du bist zur Freiheit befreit.6

Befreit, Gottes Nähe zu entdecken in dem, was dir auch in Coronazeiten geschenkt wird:       

  • Das Leise hören dürfen, nicht nur das Laute wahrnehmen.
  • Das Gewohnte neu erfahren, nicht nur das Neue vermissen müssen.
  • Die kleine Begegnung schätzen, nicht nur der großen nachtrauern.
  • Das Unerwartete entdecken, nicht nur mit Geplantem rechnen.

Befreit mit Menschen umgehen?

Der Kölner sagt: Nemm de Minsche su wie se sinn – et jidd kein andere! (Hochdeutsche Übersetzung in Römer 15,7)