Pandemie: Einer für alle

So gut wie jeden Winter bekomme ich eine Erkältung, die mir Schnupfen, Husten und Halsschmerzen beschert – meist lästig, aber kein wirkliches Problem. Epidemien? Die finden doch immer weit weg statt, abgefedert oder ausgeschlossen durch die klimatischen, wirtschaftlichen und medizinischen Privilegien in unserem Teil der Welt.

Nun hat auch uns die Corona-Epidemie erreicht, eine weltweite Pandemie. Ein winzig kleiner Virus, unsichtbar, aber potentiell allgegenwärtig und wirksam, kann alle treffen.

Pandemie (griech.): das gesamte Volk / alle Völker betreffend.

Das griechische Wort Pandemie heißt wörtlich: das gesamte Volk (oder: alle Völker) betreffend. Kaum jemand kann sich einer Pandemie entziehen, Plätze auf einsamen Inseln ohne Kontakt zum Rest der Welt sind begrenzt. Narzisstische Präsidenten oder Diktatoren, die solche Pandemie meinen ignorieren oder leugnen zu können, um sich an der Macht zu halten, rufen damit das Unheil für ihre Völker erst herbei.

Auf kleinerer Ebene geht die ethische Diskussion, ob Lebensschutz oder wirtschaftliche und persönliche Freiheit Vorrang haben, gerade erst richtig los. Weltweit haben führende Wissenschaftler gegenüber den Chefs der führenden Techkonzerne geklagt: Es gäbe nun eine ‚Infodemie‘, eine Verseuchung der Informationslage durch Fehlinformationen aus Dummheit oder Geltungsdrang, die Menschenleben gefährden. Sie sagen: „Wir können nicht gleichzeitig Lügen bekämpfen und Leben retten.“

Die Pandemie untergräbt Wahrheit und Vertrauen.

Die Pandemie hat Nebenfolgen: sie kostet nicht nur Arbeitsplätze und Wohlstand, gefährdet nicht nur Gesundheit oder Leben, sondern untergräbt auch Wahrheit und Vertrauen.

Besser einer für alle als alle für einen

Im Johannes-Evangelium wird eine hochinteressante politische Diskussion im Vorfeld der Verhaftung Jesu berichtet (Johannes 11,46-53). Der Hohe Rat ist ratlos angesichts des letzten Wunders Jesu, der Auferweckung des Lazarus. Wie mit einem Volksliebling wie ihm umgehen? Was tun, falls die an ihn Glaubenden der Besatzungsmacht Rom so gefährlich erscheinen, dass auch unsere wenigen Freiheiten noch einkassiert werden?

Der Hohepriester Kaiphas schließlich nennt die Alternativen. Was wäre besser für uns: es ginge dadurch dem gesamten Volk schlechter – oder einer wie er stirbt für das Volk, um eine Art römische Rache-Epidemie zu vermeiden?

Kaiphas war ein cleverer Machtpolitiker, der sich 18 Jahre in dieser Position halten konnte, außergewöhnlich in einer Zeit, wo die Zivilbehörden viele Hohepriester nur kurz im Amt ließen. Im Hintergrund hatte wohl schon sein Schwiegervater Hannas die Strippen für ihn als Nachfolger gezogen.

Kaiphas Argument – besser einer für alle als alle für einen – wurde unter den Rabbinern und Gelehrten durchaus diskutiert: Sollte man einen Widerständler ausliefern, um Vergeltung an der gesamten Bevölkerung zu vermeiden? Hier wurde ein Unruhestifter, der bereits im Tempel Aufruhr gestiftet hatte, den Römern ausgeliefert, um das gesamte Volk zu schützen. Machtpolitik vom Feinsten.

Die Autoren des Neuen Testamentes haben nach Ostern Züge in Jesu Leiden und Sterben entdeckt, die alten prophetischen Texten wie etwa Jesaja 53 entsprachen. Johannes deutet diese politischen Schachzüge als eine ungewollte Weissagung des Kaiphas: „Jesus sollte sterben für das Volk, um damit die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen“.

Das Kreuz beendete die Pandemie der Hoffnungslosigkeit.

Hier wird einer ausgeliefert, damit die anderen am Leben bleiben können, einer stellt sich dem Tod, damit die anderen das Leben gewinnen. So wird das Kreuz auch zum Ende einer seit Adam und Eva laufenden anderen Art von Pandemie, der Gottesferne mit ihrer Hoffnungslosigkeit einer uns Menschen aus den Händen gleitenden Zukunft. Gott selber nimmt die Folgen dieser Pandemie auf sich.

„Sich einen Lebensplan zu entwerfen – damit ist es vorbei“

Zum Jahreswechsel 1943, wenige Monate vor seiner Verhaftung, schreibt Dietrich Bonhoeffer eine persönliche Rechenschaft. Darin heißt es: „Es schien uns bisher zu den unveräußerlichen Rechten menschlichen Lebens zu gehören, sich einen Lebensplan entwerfen zu können, beruflich und persönlich. Damit ist es vorbei.“

Ja, einige sorgen sich derzeit um den Arbeitsplatz, die meisten aber vermissen nur die Bundesliga oder eine klare Urlaubsplanung. Unsere hiesige Situation gleicht dem Inferno des Zweiten Weltkrieges in keiner Weise. Bonhoeffer meinte damals: „Uns bleibt nur der sehr schmale und manchmal kaum noch zu findende Weg, jeden Tag zu nehmen, als wäre er der letzte, und doch in Glauben und Verantwortung so zu leben, als gäbe es noch eine große Zukunft“. (Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, 35.)

Mit weniger an Hoffnung und Verantwortung möchte ich – in einer mit damals überhaupt nicht vergleichbaren Situation – ungern durch diese Tage gehen.

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