Kirchliche Innovationsschübe durch die Corona-Krise

Von Dr. Tobias Kirchhof, Philipp Elhaus, Daniel Hörsch und Claudia Kusch

Blitzlichter aus dem digitalen Erfahrungsaustausch der Evangelischen Arbeitsstelle midi am 23. Juni 2020

Eingeladen waren 20 Vertreterinnen und Vertreter aus verschiedenen Teilen, Arbeitsbereichen und Ebenen der Landeskirchen, die ihre Perspektiven aus Ortsgemeinden, funktionalen Diensten, Kirchenleitung und universitärer Theologie einbrachten.

„Ein Mix, der in dieser Zusammensetzung sich sicher so nicht treffen würde“, wie die stellv. Direktorin von midi, Juliane Kleemann, zu Beginn des Erfahrungsaustausches meinte. Im Fokus standen die Innovationsschübe in Kirche, die sich durch die Corona-Krise ergeben haben, denen midi auf die Spur kommen will.

Stimmungsanalyse der pandemischen Krisenzeit

Kreativer Freiraum

Die drastischen Einschränkungen des kirchlichen Normalprogramms schufen gestalterische Freiräume. Es war der Moment der Macherinnen und Macher für geistliches Unternehmertum. Nicht das, was schon immer so war, wurde gemacht. Sondern Projekte/Vorhaben/Unternehmungen entstanden, indem sie angegangen wurden. Dinge geschahen, indem sie gemacht wurden. Diese prozesshafte Vorgehensweise ermöglichte es, leicht nachjustieren zu können. So konnte vieles gut realisiert werden. Es war ein Weg, in dem andauernd Veränderungen Platz hatten.

Gemeinden haben sich in der Krise bewährt. Gemeinden wurden zu Kooperationspartnern im Zusammenspiel mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Diese Freiräume scheinen jetzt wieder aufgrund des Hochfahrens des „Normalprogramms“ eingeschränkt zu werden.

Krisenmanagement und Selbstermächtigung

In der Wahrnehmung vieler Gemeinden haben die Kirchenleitungen besonders am Anfang zu lang geschwiegen. Es fehlte an Handlungsanweisungen und Empfehlungen. Der Lockdown auch des kirchlichen Lebens mit der Schließung von Kirchen und Gemeindehäusern hat alle Ebenen kirchlichen Handelns unvorbereitet getroffen. Die anfängliche Schockstarre und Verunsicherung führte seitens der Kirchenleitungen zum Krisenmanagement im Blick auf die Umsetzung der staatlichen und länderspezifischen Vorgaben und auf der Seite der Akteur*innen auf funktionaler und ortsgemeindlicher Ebenen zur Selbstermächtigung.

Haupt- vor Ehrenamt

Besonders in der Anfangsphase waren es die geistlichen Hauptamtlichen, die sich als Akteure in der Krise profilieren konnten. Die Ehrenamtlichen und in der Gemeinde Engagierten mussten sich erst allmählich in neue Rollen einfinden und ihre dann gewonnenen Gestaltungsspielräume entdecken. Auffällig ist, dass neue Gesichter dieses ehrenamtliche Engagement prägten, da klassische Ehrenamtliche in Gruppen und Kreisen in hohem Maße von den Einschränkungen betroffen waren.

Gefühl der existentiellen Bedrohung

Die gesamtgesellschaftliche Bedrohung durch Covid-19 unterscheidet sich von den bisherigen lebensbedrohlichen Krankheiten (Krebs u.ä.). Es betrifft nicht mehr nur die anderen, sondern für jeden kann die Erkrankung jederzeit möglich sein. Mediale Aufmerksamkeit, Maskenpflicht, Corona-App machen das Virus bzw. die Bedrohung unmittelbar.

Die Kirche hat Anteil an dieser fundamentalen Erfahrung der Verletzlichkeit des Lebens. Das Ringen um eine angemessene theologische Antwort auf diese Krise ist eben so wenig abgeschlossen, wie die entsprechende Kommunikation. Aufschlussreich ist, dass eine religiöse Deutung der Krise von der Kirche erwartet wird.

Die Corona-Krise als Geburtshelferin und Katalysator kirchlicher Innovationen

Kirche am anderen Ort – Raumverlust wurde zu Raumgewinnung

„Wir sind von einer Kommstruktur zu einer Gehkirche geworden.“ Kirche musste sich auf die „Straßen und an die Zäune“, auf die Marktplätze und in die Autokinos bewegen, um in der Pandemie erlebbar zu bleiben. Vom Traktorgottesdienst auf dem Land über die Konfirmandenarbeit mittels Schnitzeljagd durch die Stadt, Pilgergottesdienste, Posaunenchöre vor Pflegewohnheimen, Gespräche auf der Bank vor der Kirche, Ostersteine und Bibelverse auf Hauseinfahrten usw. Kirche wurde in den Sozialräumen sichtbar und damit mancherorts auch angreifbar.

Kirche als anderer Ort – neues Raumempfinden

Wenn Abstandshaltung das Gebot der Krise war, dann verfügt Kirche durch ihre großen Räume über wesentliche Chancen. So stellte bspw. eine Berliner Gemeinde ihre Kirche der muslimischen Gemeinde zur Verfügung, damit diese im Ramadan mit genügend Abstand ihr Freitagsgebet feiern konnte. In Lüneburg schuf man in der Kirche einen Lernraum für Kinder, die mit dem Homeschooling Probleme hatten. Hier konnte mit Abstand und Hilfe gelernt werden, lange bevor die Schulen wieder öffneten. Allein das Öffnen von Kirchen brachte Besuchermengen und Gebetsmöglichkeiten, die der individuellen Glaubenspraxis Raum schenkten.

Vom Veranstaltungsort zum Beziehungsgeflecht

Kirche zeigt in der Krise ihre Stärke als Netzwerk von Beziehungen. Besuchsdienste werden zu Telefonketten. Mit Briefaktionen u.ä. präsentierte sich Kirche als Beziehungs- und Ansprechpartnerin.

Gemeindediakonie und Sozialraumorientierung

Die hohe Kreativität, die sich bei der Unterstützung besonders betroffener Bevölkerungsgruppen zeigte (Gabenzäune, Sicherstellen von Tafelarbeit, indem man sie in Kirchen verlegte, Einkaufsdienste durch Konfirmandinnen und Konfirmanden usw.) hat Kirche als alltagsweltlichen relevanten Faktor im Sozialraum sichtbar gemacht. Hier wird zu prüfen sein, was weitergeführt werden kann, ggf. unter der Einbindung völlig neuer Personen, die erst dadurch zur Kirche gestoßen sind.

Familie als Ort der religiösen Praxis

Das Glaubensleben verlegte sich in die privaten Haushalte. Gottesdienst wurde zu Hause gefeiert, ins Wohnzimmer gestreamt, Predigtpodcasts gemeinsam gehört, Abendmahl gemeinsam gefeiert. Familiengottesdienst bekommt eine neue Bedeutung und bedarf der Unterstützung.

Altes wieder Modern

In der zeitlichen Umgebung der christlichen Hochfeste der letzten Wochen (Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten usw.) wurden alte Festbräuche wiederentdeckt und neu gelebt. Briefe an Gemeindemitglieder oder das Anrufen per Telefon erlebten eine erstaunliche Renaissance. Die Telefonseelsorge gewann an Bedeutung.

Digitalität als Medium praktizierten Glaubens

Einen der wichtigsten Innovationsschübe erlebte die Digitalisierung von Kirche und Glaube. Wie die midi-Studie von Daniel Hörsch zu digitalen Verkündigungsformaten während der Corona-Krise belegt, boten über 80 Prozent der Gemeinden ihre Verkündigung digital an und 78 Prozent gaben an, dass erst durch die Krise ihre Verkündigungsformate „digitalisiert“ wurden. Die Nachhaltigkeit scheint auch gegeben zu sein, denn 72 Prozent wollen ihre digitalen Angebote auch nach der Krise fortsetzen. Dies begründet sich unter anderem auch dadurch, dass durch die Digitalisierung die Gottesdienstbesuchendenzahl um 287 Prozent gestiegen ist, verbunden mit einer großen Reichweitenvergrößerung und einer neuen Nutzungs- bzw. Partizipationslogik. Zugleich stellt sich die Frage, zu welchen Milieus und Bevölkerungsgruppen kein Zugang erreicht werden konnte bzw. wer davon ausgeschlossen war.

Online-Kollekten

Das Online-Kollektenaufkommen konnte in einzelnen Landeskirchen durch eine gute Vorbereitung teilweise um das 20fache gesteigert werden. Diese Chancen gilt es gerade vor dem Hintergrund der coronabedingten Kirchensteuereinbrüche zu nutzen und weiter auszubauen.

Herausforderungen

Kommunikation des Evangeliums

Generell gilt es, bei der Kommunikation des Evangeliums den Zusammenhang von Medien, Orten und Kommunikationsformen intensiver zu bedenken und abzustimmen, um Inklusions- wie Exklusionseffekte bewusster kalkulieren zu können. Wer wird wie und wo erreicht, wer jeweils ausgeschlossen?

Neue Balancen von Haupt- und Ehrenamtlichkeit

Das durch die Pandemie ausgelöste Ungleichgewicht der Beteiligung von Haupt- und „klassischen“ Ehrenamtlichen muss wieder ausgeglichen werden. Außerdem gilt es die neu gewonnenen Ehrenamtlichen in die Gemeindearbeit einzubinden und eine neue gemeinsame Arbeitsverteilung bzw. Arbeitsausrichtung zu finden.

Professionalisierung der Mediennutzung

Nach einer notwendigen Phase des Ausprobierens muss ein Prozess der Professionalisierung besonders für den Bereich der digitalen Medien stattfinden. Fortbildungen und Tools sind hier anzubieten, damit Akteure unterstützt werden und kontextsensibel im digitalen Raum kommuniziert werden kann.

Wiederaufbau

Besonders im kirchenmusikalischen Bereich, aber auch bei Gemeindekreisen werden Wiederaufbauanstrengungen notwendig sein, denn ein längeres Nichtstattfinden von Chören Musikgruppen u.a. Kreisen wird den Bestand dieser Formate gefährden.

Priorisierung und Posteriorisierung

Durch die neuen Formate und Medien wurden vor allem neue Interessenten angesprochen, während die vertrauten Kirchenmitglieder nach wie vor über die alten Formate erreicht werden. Hier muss eine Balance gefunden werden, die es den Haupt- und Ehrenamtlichen ermöglicht, ihre Arbeit weiterzuführen, ohne dass es zu Überforderungen kommt. Manches Alte wird sterben müssen und nicht alles Neue wird fortgeführt werden können. Gerade das prozesshafte Arbeiten ermöglicht, Projekte auch leicht wieder sein zu lassen. Denn sie hatten ihre Zeit.

Motivation

25-30 Prozent der Hauptamtlichen – so die Einschätzungen – sind in der Krise nicht (innovativ) aktiv gewesen bzw. im Bisherigen geblieben. In dieser Einschätzung liegt eine große Analyse- und ggf. Motivierungsaufgabe.

Seelsorge

Trotz der der Vielzahl der hochgefahrenen und neu entwickelten indirekten Seelsorgeformate (Telefon, Chat usw.) bleibt das Problem, dass die unmittelbare Begleitung der Risikogruppen nicht gewährleistet werden kann. Hier muss weiter nach Lösungsansätzen gesucht werden, denn die seelsorgliche Unmittelbarkeit und das unmittelbare In-Beziehung-Gehen ist hier für Seelsorge wesentlich und unaufgebbar.

Ressourcen-und Resonanzorientierung

Das langsame Hochfahren des alten Programms schränkt die zeitlichen Ressourcen für die Weiterführung der Innovationen ein. Die finanziellen Kürzungsmaßnahmen aufgrund der drastisch gesunkenen Kirchensteuereinnahmen lassen die finanziellen Möglichkeiten enger werden. Neben der Notwendigkeit von strategischen Investitionen vor allem im digitalen Bereich stellt sich die Frage, wie die Erfahrung der aufbrechenden, kreativen und vielfältigen Kirche als Narrativ auch jenseits krisenbedingter Innovation wirkmächtig bleiben kann. Eine Erkenntnis des Abends ist auch, dass es v.a. Haltungen sind, aus denen Entscheider in Gremien und Leitungen Dinge ermöglichen oder verhindern. Ein „es soll wieder so werden wie es früher (auch schon nicht) war“, ist sicher nicht der Zukunftsweg der Kirche.