Kirche und Diakonie als Netzwerke

Was ist ein Netzwerk?

Mit dem Wort „Netzwerk“ assoziiert man heute außerhalb der Soziologie ganz schnell das Internet, Social Media oder Networking (Vernetzung) im Arbeitsleben. Was aber meint der soziologische Begriff des Netzwerks?

Dr. Jan Arendt Fuhse sagt, der Netzwerkforschung geht es um die Erforschung informeller sozialer Beziehungen. Die Soziologie interessiert sich dafür, wie Netzwerke entstehen. Dafür untersuchen Wissenschaftler wie Fuhse die Kommunikation zwischen Personen, Gruppen und Organisationen. Wer tauscht sich wie regelmäßig und häufig mit wem aus und wer nicht?

Homophilie

Netzwerke entstehen also durch Kommunikation. Wer sich mit wem vernetzt, ist stark von ähnlichen Einstellungen, gleicher Bildung, beruflicher Situation und Herkunft, aber auch von familiären Beziehungen und Gelegenheitsstrukturen abhängig, so Fuhse.

Das Verhaltensmuster „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ nennt der Soziologe „Homophilie“. Homophilie heißt, Menschen gehen eher soziale Beziehungen mit Menschen ein, die ihnen ähnlich sind.

Kosmopoliten und Lokale

Fuhse unterscheidet Menschen, die sich vernetzen, in Kosmopoliten und Lokale. Ihre Verschiedenheiten werden in den Kontexten Familie, Arbeit und Nachbarschaft deutlich.

Lokale führen ihr Leben in der lokalen Umgebung. Sie haben Job und Familie an einem Ort; Verwandte, Kolleginnen und Nachbarn kennen sich, es wirkt eine starke Solidarität nach innen, ihr Netzwerk ist engmaschig. Bei den Kosmopoliten treten die Kontexte auseinander. Die Familie ist weit verstreut, in der Nachbarschaft finden sich keine Kolleg*innen, der Arbeitsplatz ist nicht an den Wohnort gebunden.

Fuhse vertritt die These, dass die politischen Konflikte der Gegenwart sich um diesen Gegensatz drehen. Lokale und Kosmopoliten würden sich in anderen Lebenswelten bewegen, teils aneinander vorbei, und auch die Themen, die sie beschäftigen, seien verschieden.

Dr. Jan Arendt Fuhse: Netzwerke in der heutigen Gesellschaft. 25.11.2019 in Erfurt.

Botschafter*innen des christlichen Glaubens

Gottesdienstbesuchende und Mitarbeitende der Diakonie sind Kommunikationsbrücken des Evangeliums.

Der regelmäßige Kontakt mit einem Menschen, der zur Kirche geht oder in einer kirchlich-diakonischen Einrichtung arbeitet, fällt genauso ins Gewicht, wie der Weihnachtsgottesdienst.

Kirchgänger werden von Konfessionslosen oder Menschen anderer Religionen als Experten für den christlichen Glauben wahrgenommen. Für Dr. Felix Roleder ist das eine zentrale Erkenntnis aus der V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft (V. KMU).

Aus seiner Analyse der V. KMU mit Dr. Birgit Weyel in „Vernetzte Kirchengemeinde“ schlussfolgert Roleder:

„Aufgabe der Kirchenentwicklung ist es, das (Selbst-)Bewusstsein der Gottesdienstbesuchenden zu stärken. Oft ist den Menschen gar nicht bewusst, dass sie Botschafter des christlichen Glaubens sind.“

Doch sprechen sie z.B. mit Agnostikerinnen oder Atheisten, dann wird der Austausch durch sie religiöser, das hat die Fallstudie der V. KMU gezeigt. Und auch Evangelische, die nicht zur Kirche gehen, fühlten sich durch solche Kontakte mit der Kirche verbundener („Wenn dir das wichtig ist, ist es für mich auch wichtig“).

Gottesdienstbesuchende bringen die christliche Perspektive in den Diskurs ein. Das macht ihre Botschafterrolle aus.

Dr. Felix Roleder: Vernetzte Kirchengemeinde. Netzwerkforschung zu den inneren und äußeren Beziehungen der Kirchenmitglieder vor Ort. 26.11.2019 in Erfurt.
Es braucht Personen, die evangelische Kultur verkörpern.

Pastorin Jutta Beldermann unterstützt in der Ev. Bildungsstätte Bethel die Botschafter*innen des christlichen Glaubens, die mit ihrer Arbeit das Evangelium durch die Tat bezeugen und das Diakonische in den öffentlichen Diskurs tragen.

Diakonische Lernorte helfen bei Bethel Mitarbeitenden und Interessierten sich mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen und dazu sprachfähig zu werden. Zu den Angeboten zählen Willkommenstage, Inhouse-Seminare, Vertiefungsmodule zur diakonischen Bildung und eine berufsbegleitende Ausbildung zum bzw. zur Diakon*in.

An den Lernorten finden sich Menschen ein, die evangelisch, anderweitig religiös oder atheistisch sind, die haupt- und ehrenamtlich in Kirche und Diakonie arbeiten, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit oder auf eigene Kosten teilnehmen.

Diakonische Lernorte sind Gemeinden auf Zeit

Vor allem im Osten Deutschlands sind die Bildungsangebote gefragt. Nicht selten fühlen sich die Seminargruppen als „Gemeinde“, erleben zum ersten Mal, wie sich christliche Gemeinschaft anfühlt. Nach Besuch eines Bildungsangebots nehmen Mitarbeitende die betriebliche Andacht in der eigenen Einrichtung häufig ganz neu als Gemeinde am Arbeitsplatz wahr. Sie werden zu „Ankerpersonen“, die das evangelische Profil der Einrichtung nach innen und außen verkörpern.

Mehr Vernetzung mit der Kirche, fordert Beldermann für die diakonischen Lernorte ein. Mit ihrer evangelischen Erwachsenenbildung seien die Kirchen geeignete Kooperationspartner für diakonische Einrichtungen, die Mitarbeitende befähigen wollen. Und Kirche könne aus den diakonischen „Gemeinden auf Zeit“ auch etwas über neue Gemeindeformen lernen.

Pastorin Jutta Beldermann: Lernorte als Chance der Vernetzung von Kirche und Diakonie. 27.11.2019 in Erfurt.

Partnerschaften im Sozialraum

Strukturen befinden sich im Umbruch, Ressourcen werden knapper – Netzwerke können Kirchengemeinden helfen, ihre Zukunft aktiv zu gestalten.

Die Netzwerkforscherin Dr. Miriam Zimmer hat in einem Projekt des Zentrums für angewandte Pastoralforschung (ZAP) an der Ruhr-Universität Bochum einer Pfarrei im Sauerland dabei geholfen, ein wichtiges Thema für die Menschen im Ort gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Playern anzupacken.

Das Team des ZAP untersuchte die Netzwerkkontakte der Pfarrei und wurde auf „strukturelle Löcher“ aufmerksam – interessante potentielle Partner aus der Region waren bislang gar nicht im Blickfeld der Gemeinde. Zimmer führte Interviews mit Leuten, die beruflich mit dem Thema „Arbeit mit kranken Menschen“ zu tun hatten. Anschließend lud sie alle Interviewten zu einer Netzwerkkonferenz ein.

In der Versammlung, in der katholische Kirche und Caritas nur zwei Akteurinnen unter vielen waren, wurde das Thema Einsamkeit als Problem im Ort entdeckt. Im Advent 2016 startete das Netzwerk daraufhin eine Plakat-Kampagne gegen Einsamkeit, für die bekannte lokale Persönlichkeiten als Botschafter*innen auftraten.

Die Kampagne half, kirchliche Relevanz nach innen und außen neu erlebbar zu machen. Nach der Aktion löste sich das Netzwerk auf, die neuen Partnerschaften im Sozialraum aber blieben bestehen.

Dr. Miriam Zimmer, Dr. Benedikt Jürgens: Christsein in strukturellen Löchern. Die missionarischen Chancen der Netzwerkperspektive für die seelsorgliche Praxis. 26.11.2019 in Erfurt.

Sollen jetzt alle Organisationen Netzwerke werden?

Nein, betont Dr. Jan Arendt Fuhse. Netzwerke seien ein möglicher Organisationsmodus neben Märkten und Hierarchien.

„Wir leben nicht in einer Netzwerkgesellschaft. Netzwerke stehen neben anderen System und spielen in sie hinein“, stellt Fuhse klar. Ein Netzwerk habe im Gegensatz zu einer Organisation nicht das Ziel, weiter zu bestehen, es verändere sich ständig, sei relativ autonom und losgelöst von allem anderen. Deswegen passe die Form des Netzwerks nicht überall.

Die neuen Medien begünstigen das Leben und Arbeiten in Netzwerken jedoch. Sie ermöglichen es Individuen, Gruppen und Organisationen auf vielfältige Art miteinander zu kommunizieren, das Muster der Homophilie zumindest etwas aufzubrechen, Kontakte von früher zu behalten (Facebook) oder neue anzubahnen (Dating-Plattformen).

Wie soziale Netzwerke die Kirche verändern,

sehen Sie in den 15 Minifolgen aus der Serie Digitale Kirche Talk zum Talkabend „Ins Netz gegangen“ am 25.11.2019 in Erfurt.

Pfarrerin Theresa Brückner @theresaliebt, Kommunikationswissenschafts- und Theologiestudentin Selina Fucker und Medienberaterin Ariadne Klingbeil im Gespräch über Digitale Kirche. Moderiert von Juliane Kleemann (midi).

Talkabend „Ins Netz gegangen“. 25.11.2019 in Erfurt.