Einsamkeit ist etwas anderes als Abstand

Abstand ist mühsam, Einsamkeit ist lähmend

Ich lerne in der Virus-Pandemie mühsam auf Abstand zu achten. Wir deuten Abstand häufig als soziale Distanz, fast wie Ablehnung. Aber medizinisch notwendiger Abstand ist lebensrettend. „Im Moment ist Abstand eine Form von Fürsorge“ (Angela Merkel).

Notwendiger körperlicher Abstand spricht keinesfalls gegen intensive Kontakte, Beziehung und Fürsorge. Per Telefon, E-Mail, Messenger, Skype, Balkongespräch oder sogar im guten alten Brief.

Einsamkeit ist etwas anderes: Eine Mangelkrankheit unserer Gesellschaft.

Nicht nur, aber vor allem in den großen Städten. Vor Jahren gab es den Einsamkeits-Hit „Lemon Tree“ der Popgruppe Fools Garden. Einige Zeilen in Deutsch:

Ich sitze hier und langweile mich, mal wieder ein regnerischer Sonntagnachmittag. Schlage die Zeit tot, hab nichts zu tun, hänge rum ... Frag mich wie, frag mich warum, ... alles was ich sehe ist nur ein gelber Zitronenbaum ... Einsamkeit ist nicht gut für mich, ich wandere hin und her in einer Wüste ohne Freude.

Es gibt viele Versuche, um der Einsamkeit zu entkommen und doch an ihr zu scheitern. Bei mir und anderen entdecke ich zwei Reaktionen besonders häufig.

Täuschung

Ein Video von Mr. Bean zeigt, wie er mit Freude eine Weihnachtskarte schreibt. Dann bringt er sie hinaus in den Flur - und steckt sie in den eigenen Briefkasten, um sie anschließend voll Begeisterung zu holen und zu den anderen auf die Leine zu hängen, die er sich alle selbst geschrieben hat.

Dabei läuft es mir kalt den Rücken herunter: Einer muss sich selbst Weihnachtskarten schreiben, um seine Sehnsüchte zu erfüllen. Wir können sogar uns selbst belügen, nur um Einsamkeit zu entgehen. Lieber mich täuschen als riskieren zu erfahren, wie wenig ich anderen wirklich bedeute.

Missverständliche Signale

Ich klingele bei einem Geburtstag an einer Tür, die Bewohnerin schaut durch einen Spalt, aber sie lässt mich nicht hinein. Ich habe den Eindruck einer unfreundlichen Abfertigung. Ich denke, wer nicht will, der hat schon. Später erfahre ich: In ihrer Wohnung türmt sich Unordnung, bis hin zum Müll, weil sie es seit Jahren nicht mehr geschafft hat aufzuräumen. Ihre Abwehr ist Scham.

Es gibt weitere Signale dieser Art. Ich kenne jemand, die ist rau wie ein Kaktus, aus lauter Angst, noch einmal verletzt zu werden. Ein Kind versteckt sich vor den Eltern - und wünscht sich doch nichts sehnlicher, als gefunden zu werden. Verstecken als lautloser Hilfeschrei.

Wir verstecken unsere Einsamkeit häufig hinter Abwehr-Verhalten oder Coolness.

Aber unsere Signale kommen bei anderen anders an. Distanz und Nähe - beides zusammen geht nicht.

Soziales Endlager

In Jerusalem gab es zur Zeit Jesu den Teich Betesda, eine Art soziales Endlager. Dort sammelten sich alle, die unter die Räder gekommen waren. Blinde, die nichts mehr blickten. Lahme, die immer zu spät kamen. Verkrüppelte, denen niemand etwas zutraute. In Betesda bekam man höchstens noch Mitleid.

Manche dort glaubten, wenn sich das Wasser bewegt, dann wird der geheilt, der als erster im Wasser ist. Aberglaube? Die Bibel bewertet diese Sehnsucht nicht, sie schildert sie nur. Die Bibel ist barmherzig mit unseren Sehnsüchten.

Mitten in diesem Elendslager lag ein Gelähmter. Wir kennen von ihm überhaupt nur diese Notiz: 38 Jahre krank. Nach der damaligen Lebenserwartung ein ganzes Leben. Er lag da, vielleicht hingetragen von anderen. Wäre ich gerne abhängig von der Hilfe, der Zeit, der Geduld anderer?

Unsere Würde

Und dann kommt Jesus dorthin. Er tritt an das Lager des Kranken und stellt ihm eine einzige Frage:

Willst du gesund werden?

Mich berührt, wie ernst Jesus die Menschen genommen hat. Was Gott uns anbietet, kommt nicht über uns wie eine Dampfwalze. Er achtet unsere Freiheit, begegnet uns in Jesus mit unglaublicher Wertschätzung. Dieser Kranke hat sich seine Krankheit nicht ausgesucht, nicht den Aufenthaltsort, nicht das Betteln. Aber Jesus achtet seine Würde: „Willst du Gottes Hilfe?“

Seine Antwort: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich ans Wasser bringt, wenn es sich bewegt; und wenn ich es schaffe, ist längst ein anderer vor mir da“. Selbst diese armselige, trügerische Hoffnung ist nichts für mich.

„Ich habe keinen Menschen.“

Was für eine Selbsteinschätzung: Ich bin anderen ihre Zuwendung, ihr Interesse, ihre Freundschaft nicht wert. Mir sagte jemand: Weißt du wie sehr ich die beneide, die schnelle Freundschaften knüpfen, während ich mich mit Kontakten so schwertue? Man kann mitten in einer Menge, einer Gruppe, einer Beziehung sehr einsam sein. Übrigens auch in einer christlichen Gemeinde.

Und dann: „Ich komm immer zu spät.“ Der Satz der geborenen Verlierer. Ich kann tun, was ich will, jemand anderes ist besser, netter, zielstrebiger, liebenswerter.

Was hätten Sie geantwortet? „Reiß dich zusammen, anderen geht‘s noch schlimmer.“ Das ist billig. Vergleiche helfen nicht gegen Einsamkeit.

Oder hätten Sie gedacht: „Das klingt, als ob du an deinem Elend zur Hälfte selber schuld bist“? Selbst wenn es wahr wäre, wäre es hart. Die Menschen, die mir im falschen Moment etwas Wahres sagen, helfen mir überhaupt nicht.

Jesus reagiert weder billig noch hart. Sondern mit einem Zuspruch der Macht: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Und der Mann steht auf. 38 Jahre Sackgasse sind vorbei, Einsamkeit ist beendet.

Lähmungen lösen

Darin zeigt sich etwas von Gottes Art. Eine Begegnung mit Gott löst Lähmungen, richtet auf. Selbst wer nicht ans Bett gefesselt ist, kennt Lähmungen. Lähmungen der Persönlichkeit, der Beziehungen, der Lebensgeschichte. Gerade Einsamkeit kann wirkungsvoll lähmen.

Ich glaube: Jesus Christus kann Gefängnisse der Einsamkeit öffnen.

Er braucht dazu zwei Dinge: Sein Wort und unser Vertrauen.

Dieser Kranke glaubt, dass Jesus ihm Gutes tun kann. Wenn wir mit Vertrauen auf Gottes Zuspruch reagieren, dann heilt mehr als nur Lähmung. Dann verwandelt sich unsere Ferne von Gott in Nähe. Dann wird aus Einsamkeit Gemeinschaft mit Gott. Und die macht beweglich, um selber anderen etwas aus Gottes Liebe weiterzugeben.

Abstand ist mühsam?

Jesus hat versprochen: Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Zeiten. Er ist überall, wo jemand seinem Wort vertraut. Auch in Pandemie-Zeiten.

Übrigens: Die Geschichte findet man im Johannesevangelium in Kapitel 5.