Das gefühlte Corona

#miditagung

Während am 16. November 2020 Virologen, Politikerinnen und viele andere über die nächsten möglichen konkreten Einschränkungen und politischen Maßnahmen für die zweite Corona-Welle diskutierten – diskutierten auf der #miditagung 500 Engagierte aus Kirche und Diakonie zwei Tage über „Das gefühlte Corona“.

Nach – in diesen Zeiten fast schon obligatorischen – kleinen technischen Problemen am Anfang, verlief die Tagung unbeeinträchtigt und ging der Frage nach, wie Corona individuell, gesellschaftlich, diakonisch und kirchlich empfunden und wahrgenommen wird – und was daraus folgt.

Das Corona-Gefühl ist anders – Zur Chance der „Tiefenkrise“

Der Zukunftsforscher Matthias Horx wies zu Beginn eindrücklich darauf hin, dass sich die Corona-Gefühlslage der Bevölkerung anders gestaltet, als man es vermuten könnte.

So machen sich 2020 50 Prozent (!) weniger Menschen Sorgen um ihre Gesundheit als in den Jahren zuvor. Der „Gesamtdurchschnitt aller Ängste“ ist durch Corona in Deutschland auf den tiefsten Wert seit 1992 gesunken – auf 37 Prozent.

Dies begründet sich für Horx daraus, dass die Gefahr von Corona und ihre Folgen konkret sind, während etwa zur Zeit der Finanz- und Wirtschaftskrise (51 Prozent) oder der falschgenannten „Flüchtlingskrise“ (52 Prozent) eher ein diffuses Angstgefühl vorherrschte, was deutlich höher war. [1]

Horx's Einschätzung nach kommen die meisten Menschen gut durch den Lockdown, tragen die Einschränkungen der Regierung mit und sind sogar zuversichtlich, dass sie aus der Corona-Krise „etwas Positives mitnehmen“.

Corona ist vielleicht faktisch fördernd für die Einkommensungleichheit, es wirkt jedoch gegenteilig hinsichtlich der Lebenszufriedenheit. Denn die sinkt durch Corona für die Einkommensstärkeren und steigt für die Einkommensschwächeren. [2]

Die vermeintliche emotionale Krisenstimmung wird damit eher zum Zeichen für einen Neuaufbruch, als für Resignation.

Horx sieht einen Wertewandel durch Corona katalysiert: So könnte es zu einer Wiedervergesellschaftung kommen, denn Gesellschaft wird als hilfreich empfunden und „Solidarität ist unmittelbar einsichtig“.

Die gesellschaftliche Zustimmung zu den Einschränkungen könnte auch der Ökologisierung zu Gute kommen, denn Verzicht wird in und nach der Pandemie als erfolgreich erfahren. Corona führt uns in eine plastische Zeit und wir haben die Chance zu gestalten.

Die zentrale Aufgabe von Kirche und Diakonie sieht Horx dabei vor allem darin, Hoffnung und Zuversicht zu geben.

Allerdings wollen wir auch diese Twitter-Reaktion auf die Thesen von Matthias Horx nicht vorenthalten: „Ich finde Horx's Texte immer sehr wertvoll, weil er seit Jahrzehnten zuverlässig genau das Gegenteil dessen vorhersagt, was eintrifft. Da ist er sehr treffsicher.“ Soviel zur Zukunftsforschung.

Keine Chance ohne Krise

Aus diakonischer Perspektive konnte die Einschätzung von Matthias Horx bestätigt werden. Der Präsident der Diakonie Deutschland Ulrich Lilie setzte mit seinen Beobachtungen die Tagung fort: „Keine Krise ohne Chance. Aber auch keine Chance ohne Krise.“

Die Chance liegt – ebenso wie bei Horx – darin, dass eine neue Verbundenheit generiert wird. Wenn wir wirksam diese Krisen-Zeit gestalten wollen, dann muss eine Folge eine „sozial-investive Politik“ sein.

Die Wirtschaft zu stützen ist wichtig, mindestens ebenso wichtig ist es, den sozialen Frieden zu erhalten und das geht nur über eine entsprechende soziale Infrastruktur.

Wie wichtig diakonische und soziale Arbeit sind, hat sich in den letzten Monaten gezeigt – sie ist nachhaltig politisch und gesellschaftlich wertzuschätzen und strukturell zu stärken. Kirche und Diakonie haben sich hier zu engagieren.

„#stayathome – seid solidarisch und bleibt Zuhause“

– und wenn sie keins haben, sind sie unsolidarisch.

Die Diakonin Bettina König stellte die Arbeit mit Obdachlosen vor und machte den Teilnehmenden eindringlich deutlich, dass der Slogan des Frühjahrs „#stayathome – seid solidarisch und bleibt Zuhause“ ein Schlag ins Gesicht einer jeden Obdachlosen ist.

Ganz genauso die berühmten AHA-Regeln – denn bitte wo soll man sich auf der Straße die Hände waschen, wenn fast alle öffentlichen Einrichtungen geschlossen sind?

Der kommende Winter wird brutal – wenn nicht sogar tödlich, denn die Notunterkünfte für Menschen ohne Obdach bieten keinen Schutz vor Corona, aber bei Minusgraden kann man auch nicht mehr auf der Straße übernachten.

Damit schließt König an die Aussage ihrer Vorredner an, dass die sozialen, gesundheitlichen Auswirkungen und auch die emotionalen Chancen der Krise ungleich verteilt sind.

Spaltung der Gesellschaft durch Corona

Dies belegt auch eindrücklich die 2021 erscheinende empirisch-qualitative „Covid-19-Sinn-Studie“ von midi, Diakonie Deutschland, EKD und dem christlichen Gesundheitskonzern Agaplesion „Das Lebensgefühl in Corona-Zeiten“.

Erste Ergebnisse stellte deren Mitinitiatorin Solange Wydmusch in kleinen Kurzreferaten verteilt über die ganze Tagung vor:

Sie beobachtet eine Spaltung der Gesellschaft durch Corona: Manche Menschen konnten die Lockdown-Zeit im Frühjahr 2020 als heilsame Unterbrechung genießen, bei anderen stand die Existenz auf dem Spiel.

Die einen suchen sich jetzt ein Häuschen im Grünen, hinterfragen ihre Routinen und gestalten ihr Leben sinnhafter – die anderen müssen in Kurzarbeit oder in die Arbeitslosigkeit und haben Existenzängste. Die einen sind isoliert, die anderen entdecken Freundschaften und Familie für sich neu.

Einig scheint man sich nur in der Angst, jemanden anzustecken und fürchtet das damit verbundene Schuldgefühl. Aber die Kern-Institution für Schuld, die Kirche, spielt für die allerallermeisten in der Krise keine Rolle. Sie ist weder Hoffnungsträgerin noch hat sie eine Funktion.

„Wir halten kirchlicherseits sehr oft noch an Videokassetten fest“

Am zweiten Tag der Tagung ging es um die Frage der Wirkmöglichkeiten von Kirche bzw. was die Corona-Krise mit ihr selbst macht.

Der Tag startete mit dem Vortrag von Steve Kennedy Henkel, der den Anwesenden erst einmal Instagram erklärte und wie man mit und auf diesem Medium glauben kann.

Dem Vorwurf der digitalen Nichtganzheitlichkeit begegnete er mit: „Wenn Cybermobbing mein Herz verletzen kann, dann kann ein digitales Abendmahl es auch heilen.“

Digitale Personalgemeinden werden eine Möglichkeit zukünftiger christlicher Vergemeinschaftung sein und die sind nicht nur zu begrüßen, sondern auch kreativ zu inspirieren.

Segen wirkt auch, wenn er durch eine Kamera weitergegeben wird und Agape(mahl) ist nicht nur digital, sondern ggf. auch mit Gin Tonic möglich.

Damit illustrierte Henkel eine Transformation, zu deren Prophetin Sandra Bils mit ihrem Schlussvortrag über „Disruptive Ekklesiologie“ wurde.

Corona löst gerade den eingefrorenen Zustand von Kirche und verflüssigt Strukturen, Traditionen und Routinen.

Diese Zeit gilt es zu nutzen: „Um unserer Mission gerecht zu werden, müssen wir Formen und Formate aufbrechen. Wir sind alle Agent*innen des Wandels und die Disruption hat uns dafür den Stimulus gegeben.“

Neues wagen und Altes weglassen – dafür ist jetzt die Zeit.

Last, but not least – Die Teilnehmenden

An dieser Stelle könnte der Text enden. Eine Vorstellung der Hauptinhalte der Vorträge – quasi als Informationssicherung. Damit würde er aber nur einen kleinsten Ausschnitt des Geschehens wiedergeben.

Denn die vielen Teilnehmenden haben in bis zu 40 Arbeitsgruppen die Vorträge reflektiert und mit eigenen Erfahrungen und Gefühlen ergänzt, sich gegenseitig ausgetauscht, vernetzt und neu kennengelernt.

Sie haben ihre Pausen miteinander geteilt. Und sie haben die Tagung verlängert, indem sie sich am Ende noch in einzeln initiierten digitalen Räumen trafen um weiterzureden. Mehr Wertschätzung für Referierende und Veranstalter geht fast nicht.

Innerhalb der Kürze der Zeit war es noch nicht möglich, all die Gruppenprotokolle, die Ideen, Anregungen, Ergebnisse und auch Fragen zu sichten und zusammenzufassen. Das wird zu einem späteren Zeitpunkt noch folgen. Es soll aber auch nicht unerwähnt bleiben, genauso wenig wie die vielen Beiträge auf Twitter, Instagram und Facebook unter #miditagung.

Da finden Sie u.a. auch diesen emotionalen Post vom Morgen des zweiten Tages kurz vor Beginn der Tagung in der Ankommensphase, als noch nicht alle ihre Mikros ausgestellt hatten: „Auch das ist Kirche: jeder hat was zu sagen und wenn es "Guten Morgen" ist. Noch weitere 400 Mal?“

– Warum eigentlich nicht? Wir fanden es toll. 


[1] Quelle: R+V Versicherung.

[2] SOEPv35 und SOEP-CoV, Tranche 1-2.