Corona: Zeichen für Spott oder Sieg

Die Kugelform des Corona-Virus Sars-CoV-2 ist zu einem Symbol der Krise geworden: In Karikaturen, auf Plakaten oder in Wissenschaftssendungen macht der Ball mit dem kronenartigen Stacheln das für uns unsichtbare Virus als allgegenwärtige Gefahr anschaulich.

Der Soziologe Hartmut Rosa stellt den radikalen Stopp aller Machbarkeit vor dem Virus fest: „Wir können es nicht sehen, hören, riechen, tasten oder schmecken. Damit untergräbt es unsere Selbstwirksamkeit. (...) Corona ist die Manifestation des Albtraums der Moderne. Es symbolisiert und manifestiert das radikale Unverfügbarwerden der Welt.“1

Coronaviren bekamen ihren Namen von Wissenschaftlern aufgrund ihres unter dem Mikroskop erkennbaren kranzförmigen Aussehens. Corona steht lateinisch für Kranz, Krone oder Kreis, im Griechischen des Neuen Testamentes als ‚Kranz‘ (στεφανο) für die Goldmedaille der Antike.

Siegeskranz oder Dornenkrone

Paulus nimmt ihn als Beispiel für Zielorientierung und Fokussierung des christlichen Lebens auf Gottes Zukunft. Sportler geben ihr Bestes für einen vergänglichen Siegeskranz, „aber auf uns wartet ein Siegeskranz, der unvergänglich ist“ (corona incorrupta, 1. Korinther 9,25).

Auch Könige oder Cäsaren wurden gekrönt, um sie herauszuheben. Von daher ist die Dornenkrone (corona spinea), die Jesus bei der Folter aufs Haupt gedrückt wurde, mit dem Purpurmantel eine Verspottung seines Herrschaftsanspruches: „Hoch lebe der König der Juden!“ (Markus 15,17-18). Ein Spottkönig, den Händen der Menschen ausgeliefert, blutend unter der Krone, ist mit seinem Anspruch doch wohl widerlegt.

Corona lässt beide Deutungen zu: den Lorbeerkranz von Ehre und Anerkennung, den Dornenkranz von Leid und Verspottung.

Diese Spannung bleibt hochaktuell

Im Politikteil wird abgewogen, wo und wie lange noch Rücksicht auf Risikogruppen zu nehmen sei, im Wirtschaftsteil, welche Forschung (und damit welche Aktie) wohl als erstes ein Medikament auf den Markt werfen wird, um Anerkennung und Gewinn zu ernten. In der gleichen Ausgabe stehen die aktuellen Todeszahlen – bei uns deutlich niedriger als in manchen anderen Ländern – und die Berichte über Leiden und Sterben der Menschen durch die heimtückische Pandemie.

Mit dieser Spannung deckt die Krise beides auf, das Gute wie das Schlechte, Hilfsbereitschaft wie Distanzierung, die in uns Menschen liegen können. Der Theologe Günter Thomas weiß: „Akute Ereignisse der Verletzlichkeit können ungeahnte Energien des Beistandes und brutale Egoismen entfesseln.“2 Solidarität bleibt ein knappes und schnell verderbliches Gut.

Das Erdbeben in Chili

Der Germanist Jürgen Fohrmann weist mit Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ eine fatale Struktur menschlichen Handelns nach.

Eine Katastrophe wie das die Stadt zerstörende Erdbeben unterbricht die geplante Hinrichtung zweier unehelicher Eltern durch die Mehrheit der Moralischen. Man teilt plötzlich als Familie der Überlebenden Nahrung und Fürsorge miteinander. Bei Kleist heißt es: „Und in der Tat schien mitten in diesen gräßlichen Augenblicken, in welchen alle irdischen Güter der Menschen zu Grunde gingen, und die Natur ganz verschüttet zu werden drohte, der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume, aufzugehen.“3

Sobald sich die Lage aber etwas beruhigt hat, gerät das junge Paar in der Kathedrale (!) in den Sog der Verarbeitung der Katastrophe. Offensichtlich habe die Fortsetzung sündigen Lebens die Strafe Gottes herbeigeführt. So werden die Schuldigen öffentlich markiert und dann erschlagen. „Das Gedächtnis der Stadt, das nun erneut vor die Zeit des Erdbebens zurückreicht, ist wiederhergestellt.“ Fohrmanns Studie fragt: „Kann man der definitiven, irreversiblen Markierung (erg.: als Schuldige) entgehen?“4

Krummes Holz und aufrechter Gang

In der Tat werden seit Beginn der Pandemie Verursacher benannt, werden Menschen oder Länder als Schuldige oder Feinde markiert: Als Virusverbreitende, als Leichtsinnige, als für wirtschaftlichen Niedergang Verantwortliche, als Freiheitseinschränkende, als geheime Verschwörer etc. Schuldige zu markieren ist das Bekannte, das Gewohnte.

Kein Wunder: Der Mensch ist beides, ist krummes Holz und aufrechter Gang. So hat Helmut Gollwitzer mit Formulierungen von Kant und Bloch diese Gegensätze im Menschen bezeichnet. „Aufrechter Gang – das ist Leben in Sinnesgewißheit. Krummes Holz – dem ist Sinn bezweifelt oder ganz aufgekündigt.“ Und Gollwitzer fragt: “Wie kommt krummes Holz zum aufrechten Gang?“5

Weiter wie zuvor?

Nicht die kleinste Frage ist jetzt: Soll es hinterher möglichst weitergehen wie vorher, oder können wir eine sich selbst in Richtung des klimatischen, wirtschaftlichen, ökologischen Abgrundes beschleunigende Gesellschaft anders, neu aufsetzen? Kann krumm aufrecht weiter gehen?

Hartmut Rosa meint: Es „bleibt nur die Alternative, die Gesellschaft beziehungsweise ihren Stabilisierungsmodus entweder neu zu erfinden oder aber die Beschleunigungsmaschine so schnell wie möglich wieder in Gang zu setzen.“ Denn gerade jetzt „öffnet sich ein Fenster der Gelegenheit für einen kollektiven Pfadwechsel“.6

Fenster der Gelegenheit

Ich meine, neu heißt: Auf dem Pfad der Nachfolge des gekreuzigten Auferstandenen. Dort braucht es keine Distanz zum Leid, weil einer in das Leid hineingegangen ist, keine Schuldverschiebung, weil in der Lebenshingabe des einen Unschuldigen alle anderen Schuldigen von ihren Markierungen befreit werden.

In der Nachfolge Jesu können wir unsere Grenzen überschreiten, in seinen Spuren die Hilflosen treffen, in denen er uns begegnet.

Vor ihm kann wie bei Petrus unser Verleugnen als Neuberufung zum Dienst verändert werden. Und das scheinen mir die wichtigsten Fenster der Gelegenheit zu sein.

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